Lebensbilder II

Lebensbilder der Freiheit und des Glaubens

von Bernhard Kummer



So weit das Schiff schwimmt und der Falke fliegt

Teil 2



Grönlands Herrin

Noch lag die sommerliche Wärme in den Fjorden Grönlands, das Vieh fand reichlich Gras und manches Schiff aus Island und aus Norwegen hatte neue Waren gebracht. Werkzeug und Mehl, Bauholz und Jungvieh, und auch manchen Mann, der sich entschloß zu bleiben.

Schön war das Land unter den Bergen aus Eis. In den tieſen Fjorden, die denen Norwegens ähnlich waren, schienen die Sommer fast angenehmer zu sein als an den ungeschützten Küsten Islands. Inseln schirmten die Einfahrt und halfen den Fischern, Walroß-Jägern und Eiersammlern, gute Beute heimzubringen. Und das Treibeis draußen, das im Vorsommer gefährlich drohte, brachte dem Seehundsfang Erfolg. Drinnen nährte das Moos der Halden kleinere Rentierherden, und die Flüsse lieferten den Lachs.

Frau Thjodhild, Erichs des Roten Witwe auf Brattahlid, wußte die Arbeit des Sommers getan. Das Winterfutter für die sechzig Kühe und vier kleinen Pferde war geborgen, die Ställe waren mit schweren Steinen dicht und fest gebaut, das gesalzene Fleisch und die Butterfässer, Schafkäse und anderer Vorrat lagen im Keller auf Eis, und die eingetauschten Handelsgüter lagen wohlverwahrt, zu späterer Verteilung auf die Höfe, je nach Bedarf.

Von der Südspitze Grönlands, der „Ostsiedlung“, bis zum nördlichsten Wohnplatz der „Westsiedlung“ und weiter zu den Sommerfanggebieten bei den Eskimos im Norden galt der Hof Erichs des Roten und die Frau Thjodhild mit ihrem Sohne Leif als die Mitte und der Hort des Landes.

Was in der Macht der Menschen lag, um den Winter zu bestehen, glaubte Frau Thjodhild getan. Nun ging sie wieder alle Abende, ehe die niedriger dahinziehende Sonne ihren lieben Strahl auch dem westlichen Ufer des nordwärts biegenden Fjordes entzog, zu ihrer Kirche, um zu beten. Die Heiden hatten vom großen Fimbulwinter gedichtet. Wie nahe war der hier! Man fühlte seinen Hauch, die große Götterdämmerung war über die Welt gekommen.

Ja, es war schon recht getan, daß sie damals sofort die kleine Kirche bauen ließ, als Leif, ihr und Erichs Sohn, vom Norwegerkönig das Taufgebot herüberbrachte und den Priester mit jenem heiteren deutschen Mann, der dem Leif bei der Taufe Gevatter gestanden hatte. Ihr Gatte Erich hatte gegrollt. Mit hartem Worte hatte er Leif begrüßt, hatte die Schiffbrüchigen, die Leif an der Winlandkfküste gerettet hatte, prächtig bewirtet, aber dem Priester keinen Blick gegönnt, dem Gaukler, wie er sagte.

Sie aber, Thorhild, Tochter Jörunds und der Thorbjörg, der „Seefahrerin“, nahm den Priester gütig und hofſnungsvoll auf und ließ sich taufen. Sie ließ den Namen des heidnischen Gottes aus ihrem Namen nehmen und sich nun statt Thorhild nur Thjodhild nennen, nach Thjod, dem Volke, das ja doch das gleiche blieb, das es war, auch unter dem Zeichen des Krist.

Und sie baute sich die Kirche nicht zu nahe bei den Häusern, denn der Priester forderte von den Getauften dieses Opfer, daß sie Abstand nahmen von denen, die ihr Herz dem Heiland nicht öffneten.

Frau Thjodhild ging seitdem ihren Weg vom Hof zur Kirche nie mit leichtem Herzen. Die Kirche war gewiß ihr Halt geworden. Sie allein verband dies ferne Land am Eise mit der weiten Menschenwelt, wo nun überall die Prediger der neuen Sitte die alten Landgeister bannten und die Gräber der Ahnen entheiligten. Die Götter vergingen. Könige und Bischöfe bauten eine neue Welt.

Wie weit denn hatte Erich fliehen wollen vor dieser neuen Welt? Der Sohn hatte ihre unentrinnbare Macht gespürt am Königshof und auf den englischen Inseln. Konnte man sich ihr entziehen? Das mächtige Rom warf das Schicksalsseil um alle Lande, und endlich auch von Bergen bis herauf nach Brattahlid.

Thjoöhild griff danach, damit ihr versprengtes Siedlervolk hier oben nicht in den Abgrund der Ferne stürzte, und ihr wilder, stolzer Mann nicht schuldig wurde an seinem Untergang. Hier gab es kein Korn und kein Brot, keine Ahnengräber und keine Heiligtümer, hier gab es kein Eisen zum Schmieden und kein Holz zum Bauen. Abhängig war man von der fernen Heimat und vom Seefahrermut der Menschen hier und dort. Und auf Menschenmut war fein Verlaß in einem Lande ohne Heiligtümer, in einer Zeit des Göttersterbens.

Aber die Kirche Roms umfaßte den Kreis der Lande mit starkem Arm. Sie würde Grönland nicht verraten und vergessen, nie, wenn sie doch wußte, daß hier Christen wohnten. Sie würde ihren Frieden strahlen lassen bis hierher, ins Herz der Menschen hier! Die Unrast bannen! Es war nicht nur ein Gaukelspiel der Priester, nein!

Thjodhild kniete vor Mariens Bild. Hatte sie recht getan? Sie konnte nicht vergessen, wie es ihren Helden damals betrübt hatte, als sie die Trennungslinie des Glaubens ziehen mußte, um ihre Seele und des Landes willen, gegen seinen Mut und Trotz! Wie sie allein das Seil des Schickfals faßte, um verbunden zu bleiben der Welt, aus der sie kam und die sich unterm Kreuz veränderte, – und ihn verlor, den Mann, der dieses Seil zerriß und stets nach neuen, freien Ländern fragte. Wie er sich rüstete zu seiner letzten Fahrt, sein Geld versteckte vor dem Priester, und zum Schiffe ritt mit düsterem Gesicht. Wie er vom Pferde stürzte und krank lag und unselig starb.

Hatte sie recht getan? Hatte sie ihm den Mut und das Heil zerstört, und ihn doch nicht dem neuen Heile gewonnen?

Sie trug den weiten Raum der Welt in ihrer Brust, trug den Zwiespalt der Welt zwischen den Zeiten in ihrem armen Herzen. Darum nun mußte sie knieen und beten, wenn es auf den Winter ging und die Arbeit tapfer getan war für das Grönlandvolk, alle Abende.

Aber auch der Priester löste ihr die Fragen ihres Herzens nicht. Und manche Frau aus guter Sippe, mancher tüchtige Mann im Volk sagte, der Landnehmermut, von dem hier alles abhing, hieße Thor, und diesen Namen hätte die Witwe Erichs des Roten nicht von sich abtun dürfen, gerade um des Volkes willen nicht!

Als sie von der Kirche zurück zum Hofe ging, sah sie Freydis, Erichstochter, deren Mutter man nicht kannte, nach dem Hafen reiten. Ihr gelbes Haar wehte im Winde, und ihre eisenharte Stimme rief die Knechte hinter ihr zur Eile an. Sie rüstete zu einer neuen Winlandfahrt mit neuen Fahrtgenossen. Ohne Bedenken, ohne Gebete, ohne ihr Kind, – und ohne Angst um das Band nach drüben.


Leif Erikssons Sorge und Trost

Leif Eriksson brachte die Freunde zum Schiff nach Norwegen. Thorfinn Karlsöefni hatte den Mut nicht mehr, noch einmal mit nach Winland zu fahren. Frau Gudrid aber hatte sehr zur Abreise gedrängt. Um ihres Jungen willen, wie sie sagte.

„Ihr hättet doch noch ein Jahr warten können“, meinte Leif. „Bis meine Schwester Freydis zurück ist von ihrer neuen Fahrt. Grönland braucht Winland, und braucht Menschen wie Euch, die es kennen.“

„Es ist nicht unser Land“, sagte Gudrid. Leif lachte: „Müssen wir fragen, wessen es ist, wenn ein Land uns lockt?“ „Es gab Tote“, sagte Gudrid. „Skrälinger! Rotbraune Teufel“, lachte Leif.

„Eine Schwester kam zu mir in die Hütte“, sagte Gudrid ernst, – „und sie erschlugen draußen ihren Jungen. Ich will seine kleinen Schuhe dem weißen Krist bringen und für seine Seele beten.“

Leif hatte schon von der Erscheinung Gudrids gehört und schwieg. Der kleine Snorri sah ernst zur Mutter, dann zu Leif. „Wenn ich groß bin“, sagte er, „komme ich zurück mit einem großen Schiff, und wir fahren nach Winland dem Guten, Oheim Leif!“

Leif legte ihm die Hand auf den blonden Kopf. „Tu es!“ sagte er, „und bitte Deine Eltern alle Tage, daß sie es erlauben, um unsertwillen!“

Sie luden die Fracht ins Schiff. Da brachte ein Knecht noch ein hölzernes Schnitzwerk geschleppt.

„Laß das hier, Thorfinn“, sagte Leif, als er es sah. „Wenn euer Snorri wiederkommt zu seiner Winlandfahrt, nimmt er es mit dorthin, woher es kam, sein stolzes Winlandhaus damit zu schmücken.“

„So stark ist deine Hoffnung, Leif?“ fragte Thorfinn ernst. Aber Gudrid winkte dem Knecht, die Schnitzerei ins Schiff zu tragen. „Wir kaufen einen Hof auf Reyniönes im Skagafjord“, sagte sie. – „Für Islandhäuser ist dies Holz zu schwer“, sagte Leif. „Aber nun fahrt in Frieden! Soweit ein Schiff schwimmt und der Falke fliegt den frühlingslangen Tag, steht ihm frischer Fahrtwind unter beiden Flügeln! Und vergeßt uns nicht!“

In schweren Gedanken ging Leif dann zum: Hof zurück und in das Frauengemach zu seiner Mutter. Er setzte sich schweigend ans Feuer, das den Raum erwärmte. Der Frühsommermorgen war kühl.

„Du bist nicht glücklich, Leif“, sagte die Mutter. Leif sah ins Feuer. „Der Vater verlockte in einem einzigen Sommer 20 Islandschiffe zur Landnahme hierher.“ „Nicht alle kamen herüber“, sagte Thjodhild. „Und du?“ „Ich kann selbst die Besten nicht halten“, sagte Leif. „Thorfinn und Gudrid fuhren heute nach Norwegen mit ihrem Sohn, der in meiner Hütte in Winland geboren ist.“

„Aber Freydis, deines Vaters Tochter“, sagte Thjodhild, „fuhr vor einigen Tagen von Gardar drüben aus, in Winland Häuser zu bauen und Land zu nehmen für viele.“ „Wo kämen die vielen her? Hätte ich Söhne, Mutter!“ Sie sah ihn schmerzlich an.

„Thorgunna?“ sagte sie leise. Leif wehrte heftig ab. „Nenne sie nicht!“ „Müßt ihr denn immer weiter fahren, Leif? Denke an die Königshalle von Nidaros.“

„Es ist unser Auftrag, Mutter“, sagte Leif. „Denke an Bjarni Herjulfsson. Er sah das neue Land, aber fuhr vorbei nach Hause. Und in der Königshalle von Nidaros spotteten die Skalden über ihn, daß er dann nicht mehr heimkehren mochte und sein Leben auf See preisgab für einen Knaben. Man spottete über uns: „Ihr Grönländer habt Eis im Blut. Habt das herrliche Waldland und das reiche Winland vor der Tür und wagt euch nicht hin!“ –

Da kaufte ich Bjarnis Winland-Schiff und fuhr nach Winland, Mutter! Wenn der Mut uns stirbt, und die Luſt an der Ferne, ist alles hier zu Ende.“

„Uns hält Gottes Hand“, sagte die Frau. „Du selbst brachtest das Christenkreuz herüber. Es hält uns, ob wir auch Winland das Gute verlieren. Leiſ, eine Mutter möchte das Leben geborgen wissen, nicht sich verströmen sehen in alle Welt. Mein Sohn Thorwald fuhr nach Winland und strandete bei Kjalarnes, und dann erschlugen sie dort die fremden Männer, die nach ihnen spähten, und mußten nun kämpfen mit übermächtigen Scharen. Ein Pfeil traf meinen Sohn. Er bat die Freunde, sie sollten ihn am Vorgebirge bestatten, wo er ostwärts schauen konnte, nach Hause, und sollten ihm Kreuze zu Haupt und Füßen setzen. – und schnellstens zurück nach Grönland fahren. So erfuhr ich’s.

Und mein Sohn Thorstein fuhr auch nach Winland dem Guten, fröhlichen Mutes. Und sie trieben im Packeis umher und kamen krank zurück in den Lyſuſjord und starben an der gräßlichen Seuche. Die schöne Gudrid, jetzt Thorfiuns Weib und auf der Fahrt nach Bergen, saß über ihm, als er starb. Und er begann noch einmal zu reden von der besseren himmlischen Heimstatt, die er nun fände, und weissagte ihr, sie werde nach Osten und Süden reisen bis nach Rom. – Nicht allen ist Winland – das Gute!“

„Es ist unser Auftrag, Mutter“, wiederholte Leif. „Und auch wenn es Kämpfe kostet: Man soll uns nicht feige nennen, nicht schlecht von meines Vaters neuem Volke in den Königshallen reden. Krists neues Gebot löscht doch die Ehre nicht aus!“

Eine Magd trat in die Tür. „Es kommt ein Schiff, Leif Eriksson. Die Berg-Wacht gab das Zeichen.“

Leif sprang auf. „Ersatz für die, die von uns fuhren“, sagte er befreit und eilte hinaus.

Dann stand er erwartend am Strand, in wehendem, blauen Mantel, etwas erhöht auf den Steinen neben dem Steg, Herr dieses Landes. Das Schiſf legte an, und als erster sprang ein schlanker, junger Mann an Land. Er lief auf Leif Eriksſon zu, hielt ihm die rechte Hand mit einem blinkenden Goldring entgegen, in froher, stolzer Bewegung: „Hier Dein Ring! Erkennst Du ihn? Ich bin Thorgils Thorgunnas Sohn aus der Olafswik auf den Hebriden! Vater! Lehre mich die Fahrt nach Winland!“


Thorgunna

Der Islandfahrer in der Bergenbucht lag abfahrtbereit neben dem Handelsschiff aus Bremen. Die Reiſenden waren an Bord, und der Anker gelichtet.

Vorn auf dem Stevenplatz saß eine fremde, bleiche Frau. Sie war mit dem Frachtschiff aus Dublin gekommen und wollte nun nach Island. Sie hatte blaue, schwermütige Augen und reiches, dunkles Haar. Nun begann sie zu weinen.

Eine andere Frau trat zu ihr, Gudrid Thorbjörnstochter, Thorfinns Weib. „Kann ich dir helfen, Schwester?“

„Ich hätte früher fahren müssen“, sagte die Fremde.

Frau Gudrid sah auf die feinen, an grobe Arbeit nicht gewöhnten Hände, die auf dem braunen Tuch des vornehmen Reisekleides lagen. „Hast Du Verwandte in Island?“ fragte sie. „Meine Verwandten wohnen auf den Hebriden“, sagte die Frau. „Bis auf meinen Sohn. Ich schickte ihn voraus.“

„Hat er einen Hof?“ „Sein Vater hat ein Land! Es kann dem Sohne an nichts fehlen.“ „Und du? Bist du krank?“ „Vielleicht.“ „Warum bliebst du nicht bei deinen Verwandten, wenn der Vater deines Sohnes dir kein Reisegeld schickt?“ „Es konnte zu spät zur Reise werden.“

Der Bauer Thorfinn trat herzu. Er sah verstimmt aus. Ein Bremer Kauſmann hatte ihm ein Kleinod abgehandelt, das ihm unverkäuflich war. Viel Gold bot er dafü; und er, Thorfinn der Reiche, gab nach, denn er hatte sich verausgabt, weil er aus Mitleid für diese fremde Frau da noch einen Schifſsplatz mehr auf dem Schiffe kaufen mußte. Was aber ging sie ihn an?

Die Frau erriet seine Gedanken. „Ich weiß, du hast es um meinetwillen getan. Es war ein schönes Schnitzwerk, aus echtem Mösurholz, das nur in Winland wächst.“

Thorfinn war überrascht. „Das weißt du?“ Sie nickte. „Mein Sohn wird dir ein neues Stück aussuchen und schicken, wenn er nach Winland fährt, das sein Vater fand.“

Der junge Snorri Thorfinnsson war herangekommen. „Leif der Glückliche?“ fragte er erregt.

„Ich weiß nicht, ob er der Glückliche ist“, sagte die Frau. „Ich schickte ihm den Sohn, damit er es werden kann.“

Thorfinn sagte: „Nie hat Leif von dir und ihm gesprochen auf unseren Fahrten.“ Sie sah ihn mit ihren unergründlichen Augen beinahe feindlich an. „Ein Mann hat wenig Grund, von einer Frau zu sprechen, die er verlassen hat.“ Dann wandte sie sich ab, lehnte sich vorn an den Stevenhals des Schiffes und sah voraus in die Ferne.

Da ging Frau Gudrid zu ihr und legte ihr den eigenen Mantel um die Schultern, denn sie sah, wie die fremde Frau zitterte vor Kälte oder Herzensleid.


Weiter mit Teil 3