Der Odinsgedanke war eine Realität auch im 13. Jahrhundert. Der Gastgeber Snorris in Norwegen, eben jener von bestimmten kirchlichen Kräften gestützte Gegenkönig Skule, fragt Snorri, den gelehrten Gast aus Island, einmal im Jahre 1238:
„Ist es wahr, wie ihr sagt, daß Odin, der in alter Zeit die Könige wider einander hetzte, mit anderem Namen Gaut genannt wurde?“
Snorri bejaht das und soll nun eine Strophe dichten auf einen Mann namens Gaut, der besonders zum Krieg gegen König Hakon hetzt. Er solle zeigen, „wie sehr dieser jenem (Odin) gleicht“. Diese Szene berichtet der Neffe Snorris, Sturla Thordarson, der nach dem Tode des großen Sverrir-Enkels Hakon (1263) den Auftrag annimmt, dessen Lebensbeschreibung zu verfassen. (Hak. s. Hs. Kap. 194).
Es ist seltsam, daß man solche zweifellos historischen Erlebnisse des großen Mythographen Snorri nicht nutzt, um zu verstehen, was er selbst zwischen Politik und Mythenschreiben von diesem Odin dachte. Der mit den Kreuzbrüdern Roms gegen Sverris Enkel kämpfende Skule redet in Snorri die Isländer an („ihr“), die ja die alten Götternamen und Göttergeschichten pflegen.
Diese Isländer aber haben den Charakter Odins als den eines Streitweckenden stets betont:
Odin bringt (Völuspa) den ersten Massentotschlag in die Welt der ritterlichen Kämpfe, er sät Zwist, wirft Streitrunen unter Verwandte, leiht den Speer zum Mord, fährt als Wagenlenker den Fürsten in den Tod, bricht den freien Willen der Helden, trügt, die ihm vertrauen, bannt in Todesschlaf die Heldenschützerin, schließt Blutsbund mit dem kaukasischen Erbfeind Loki, verschuldet Baldurs Tod und Friggs Tränen, verscherzt die Jugend der Götter, bricht Verträge, beschleicht und jagt Frauen, lehrt Zauber und Blendung, neue gebundene Schlachtordnung und neues Herrenrecht, krönt die Seinen mit Ruhm über dem Volk, mit losgelöstem Herrentum, mit Beute und mit Macht. Er ist der „Schrecker“, der „Treulose“, der „Unheimliche“ und Nie-Vertraute, der Unbegreifliche, Ganz-Andere, der Wandlungsfähige, Enteignende, Entselbstende, Verstörende. Und dazu der Totengott, der Gott der Gehenkten, der Friedlos-Gestorbenen, der „Wölfe im Heiligtum“, mit Raben und Wölfen als Gefeit und den immerfort sich schlagenden Einheriern.
Wilhelm Hauer sagt dazu: „Wir wissen heute nach zwei Weltkriegen und Niederlagen auch etwas von der Furchtbarkeit und Unheimlichkeit der Gottmacht, an die wir glauben“, und er übersetzt Odins Benennung Yggyungr asa (Vsp.) mit „der Unheimliche“ (der Asen).
Aber für „glauben“ sagte man einst trüg, d. h. vertrauen, trauen, und der „fulltrui„, der, dem man ganz vertraut, wie Thor, konnte Odin niemals sein.
Auch wer als Christ, unbeirrt von einer wandlungsfähigen Theologie, dem „Vater unser“ im Sinne der gepredigten Liebesreligion wirklich vertraut, wird keineswegs je etwas anders als ein „Vaterhaus“ bei Gott suchen, wird im irdischen Grauen der Kriege keineswegs Gott selbst als den „Unheimlichen“ gesehen haben. Der heidnische Thorsglaube war auf Vertrauen zu dem „Freund“ gestellt, der nicht nur im Sturm der Welt, sondern auch in der Stimme des Innern sprach, und auch im Untergang von den Ahnen her Bestand erhielt und Sicherheit gab.
Heim und Welt (= heimr), Irminsul und Weitenbaum, Heimdallr und Hochsitzpfosten:
In dieser Verbundenheit lebte die — Kraft und Frieden gebende — germanische Bauernfrömmigkeit, die in der Stimme des donnernden Himmels wie im Schwur und Recht und Ahnenbild das umfassende Leben eines „von Erdkraft genährten“ und „durch Sippe allem Volk verwandten“ Gottes spürte.
Diesem angedeuteten Glauben gegenüber war jener „Unheimliche“, der über das Wikingertum an die Fürstenhöfe kam, genau so fremd und feindlich, wie jener neu gepredigte Allmachtgott aus dem Lande der Juden, der „furchtbar“ ist in seinem Zorn wie ein Pharao, oder wie jener „Mundtöter“-Weitenrichter der Völuspä, der nach W. Krogmanns geistvoller Deutung mit seinen Muspallssöhnen von Süden naht, als gefürchtete Christuskirchenmacht.
Im Brüchigwerden aller alten Ordnungen und Bindungen, erschüttert von den „Ragnarök“ und ihren sittlichen und staatsrechtlichen Voraussetzungen, wird die Ahnung eines furchtbaren, unzuverlässigen Gottes zum herrschenden Gefühl; er verschmilzt mit dem Unheimlichen, was da — ebenfalls „Menschenopfer“ fordernd und richtend — als neue Übermacht hereinbricht; und von beiden erlöst, — der „weiße Krist“, der „Heliand“ und Vertraute — oder aber —die Unterwerfung unter Christo Stellvertreter in Rom mit seiner Macht, zu binden und zu lösen.
Und wie die Fürsten um ihrer Macht willen als erste Odin sich beugten, wurden sie die Bahnbereiter und Vorkämpfer der Machtkirche Roms. Dessen Feinde sind überall die Freien Bauern Thors, und nicht die Herren unter Odins Zeichen!
Aber wie dann Sterbende — gewiß nur wenige — sich diesen Gott erschauten, wie sich in Dichterherzen der Gott des Untergangs, der ahnungsvolle Wanderer, die Burg des Ruhmes baute, leuchtend über dem Abgrund der Trostlosigkeit, wie er Rat sucht am Brunnen der Urd und Helden sammelt zu letztem Kampf gegen das Chaos im Ohnmacht schaffenden Seelenzwiespalt eines zerrissenen, innerlich aufgespaltenen Volkstums, dem seine Ahnen genommen werden und die Heiligkeit seiner Herde: das ist bleibend groß, und dessen hat sich Germanien in den „Ragnarök“ nicht zu schämen.
Wieweit hier der sächsische Erntegott Wodan oder der „Mercurius“ des Römers Tacitus uns nötigt, auch eine ältere, südgermanische Linie zu verfolgen, muß unerörtert bleiben. Die Namensdeutung Wodans als „Wütender, innerlich erregter“ usw. braucht keineswegs die einzig richtige zu sein. Und wenn Tacitus im Jahre 98 n. d. Zw. allgemein sagt, die Germanen verehrten von allen Göttern am meisten den Merkur (Tacitus, Germania c. 9), (vgl. Mittwoch — Mercredi — Wednesday, Wodanstag usw.), so ist das gegenüber den Nerthusvölkern, den Chauken und den Skandinaviern höchst unwahrscheinlich, wenn hier mit diesem Merkur ein Gott gemeint ist, der dem Totenführer Merkur-Hermes und dem spätnordischen Ekstase-Gott Odin irgendwie entsprochen haben sollte.
Dieser Satz ist ein sehr zweifelhafter Beleg!
Als Armin für die Freiheit seines Volkes gegen Varus und Augustus siegte und sein Freiheitsruf dem Schwager der die Priesterbinde am Augustusaltar genommen hatte, vom „Altar für Menschenvergötterung“ wegrief zu den heiligen Herden der Heimat, da regierte nicht Odin in seinem Herzen.
Jener Kaiser Augustus aber wurde dann von seinen Römern als Gott Merkur dichterisch gefeiert! Und gewiß waren jene römisch gesinnten Germanen, die etwa im Sinne des „Segelt mit den Römern“ paktierten, auf dem Wege zu diesem Merkur, als sie erklärten:
„Wenn man sich seine Herren wählen könne, so sei es ehrenvoller, die Herrschaft von römischen Kaisern als von germanischen Frauen zu ertragen.“ (Tacitus, Hist. IV.)
Wie stellt man sich denn unter Wodan-Odin als dem höchsten und seit Jahrtausenden“ herrschenden germanischen Gott die Bedeutung einer Veleda, Gambara, Albrûna usw. vor?
Und wieso — wenn nicht im Hinblick auf Augustus-Merkur — stand den römischen Historikern der germanische Donar-„Jupiter“ unter Merkur?
Von den Chatten, d. h. den nördlich des Limes romnah wohnenden Germanen, sagt Tacitus:
„Was höchst selten (rarissimum) und nur bei der römischen Disziplin berechtigt ist: sie legen größeren Wert auf den Führer als auf das Heer.“
Hier sah Tacitus einen anderen, fast römischen Gehorsam, eine andere Kriegsführung, eine Elite von bevorzugten Kriegern, eine nicht mehr auf Gegenseitigkeit verpflichtete, sondern zuchtvoll geführte „blinde“ Gefolgschaft. Und bei den „Hariern“, die wild bemalt hinter schwarzen Schilden als „wildes Heer“ und Totenheer durch Schrecken siegen, sah er den Männerbund, eine Ausnahme, die meiner Meinung nach keineswegs erlaubt, mit Hilfe von mittelalterlichen Maskenbräuchen einen terroristisch Kult und Staat beherrschenden geheimen Männerbund unter Odins Führung in die Lebensmitte des gesamten Germanentums zu stellen, das „Heldentum“ ersetzend durch die „Berserker“, die Kynast richtig ablehnt und „die den alten Isländern als Epileptiker deutlich wurden.“ (Diss. Oeppert, Jena 1941.)
So wenig Dionys und die orgiastischen Kulte oder das Magische in die Lebensmitte der Griechen gehören (s. Kynast), so wenig oder noch viel weniger die Berserker — Kettenhunde des Herrscherwillens in den isländischen Quellen — in die Lebensmitte der germanischen Kriegerethik.
Nicht zufällig sehen wir diese Berserker bei Snorri (Heimskringla) zuerst als Feinde von Gutthorms Vater, Sigurd Hirsch, auftauchen, der angeblich eine Tochter des von Ludwig dem Frommen in Mainz feierlich getauften Harald Klakk zur Frau hatte, und jenen Gutthorm dann, aus der Haft eines Berserkers durch Halfdan den Schwarzen befreit, mit dem (im Norden damals fremden) „Herzog“-Titel die Vormundschaft über den Sohn Halfdans übernehmen.
Und dann zeigt uns der wissende Snorri die in Dienst des neuen Königtums genommenen Berserker auf den Schiffen des Lehnstaatgründers Harald Schönhaar bzw. seines Vormundes „Gutthormr“ in der Schlacht im Hafrsfjord, in der die Freibauern besiegt werden; und der Herrenskalde Thorbjörn Hornklofi spottet über die zerschlagene Bauernmacht, die nun nach Island und auf die Inseln flüchten muß, wenn sie die Freiheit sich erhalten will.
Und nicht zufällig heißt die Wikingerfeste, die zwischen den Volksstaaten nach römischem Fußmaß gebaut, den Männerbund beherbergt, „Trälleborg“, Kriegsknechteburg, gewiß im Sinne einer neuen Unterwerfung unter Odins und seiner Geweihten Gesetze, wie es Otto Höfler geschildert hat.
Man muß zwischen Germanien und Rom ein Zwischenreich des Wodanismus sehen, wenn man den Prozeß der römisch-germanischen Begegnung verstehen will.
Und es ist ein großes Verdienst von Otto Höfler, dieses Wodan-Odin-Weihekriegertum ohne rationalistisches Mißverstehen neu gesehen und gedeutet zu haben, auch wenn es meiner Meinung nach ihm nicht gelingen kann, es in die Lebensmitte altgermanischen Volksglaubens und gemanischer Volksstaaten zu verlegen. Wir sind in der Zeit Ludwigs des Frommen, „den die Männer niemals lachen sahen“, wie es im Flateybuch (I/101) einmal heißt, oder in der Zeit Lothars, seines Sohnes, dessen „Lotharkreuz“ in Aachen mit der kostbaren Augustuskanne den christlichen Augustus-Imperialismus illustrierte. Wir sind in der Zeit Konrads (mit Hatto von Mainz) und — über König Heinrichs Tage hin dann in der Zeit der Ottonen. — Otto III. kämpft und christet am Dänenwall.
Alles das weiß Snorri Sturluson, wie „Nornagest“ es weiß.
Daß die entgegengesetzten, hier angegriffenen Meinungen wissenschaftlich in gutem Glauben und keineswegs irgendwie aus Gründen politischer Art vorgebracht worden sind, sollten wir aber mit Selbstverständlichkeit voraussetzen!
Quelle: Auszug „Der Gott Odin und sein Gefolge“ (Bernhard Kummer)