Der Gott Odin – 04

Wer eine Gottheit verstehen will, der muß das Herz eines gläubigen Menschen, das jemals von dieser Gottheit erfüllt war, schlagen hören. Er muß, wenn es sich um Vergangenes handelt, eine Quelle finden, in der sich ein solcher Herzschlag vernehmen läßt. Sonst soll er auf Deu­tungen verzichten, denn er kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob jene Gottheit überhaupt jemals eine geglaubte Gottheit war.

Im Falle des Gottes Wodan-Odin findet man nur im Norden einige unmittelbare Zeugen. Die Geschichte des Isländers Egil gibt einen tie­fen Einblick in das Odinserlebnis. Egyl verliert seine Söhne, sieht seine Sippe dahinwelken, ringt mit dem lähmenden Schmerz und ent­ringt sich ein herrliches Lied. Und darin wendet er sich auch an Odin:

 

Ich stand mich einst gut mit dem Gott der Speere, ich vertraute ihm, bis er mich trog und mir die Treue brach. Nicht froh verehre ich ihn, lieblos war er mir, aber er gab mir die Kunst des Dichtens!

 

So ge­tröstet und befreit durch das Gedicht will Egil nun heiteren Sinnes „die freudlose Hel erwarten! Solche Dichterstimmen des letzten heidnischen Jahrhunderts müssen wir hören!

Da ist Hallfred, der Dichter am Hofe des Bekehrerkönigs Olaf Tryggvason. Er will die alten Götter im Liede nicht preisgeben, und muß sie nun schweren Herzens verleugnen. Da sind namhafte Männer, die dem Rabengott drohen, die mit ihm hadern, daß er ihnen „wankelmütig“ das Kriegsglück nimmt, oder die triumhierend den verhaßten Feind mit toddrohendem Speerwurf dem Odin weihen, zu Odin senden. „Odin habe euch alle!“

Da berichten uns die Dichter, wie Helden von Odin beraten den „Blutadler reißen“ auf dem Rücken des besiegten Feindes! Da ist der junge Sigurd, dem sich mit Hedinn auch Odin beigesellt auf der Hel­denfahrt. Da ist Starkad, der dem Odin verfällt, und von ihm ver­führt, seinen jungen Fürsten ihm „opfert“, und nun lebenslang die Schuld im Liede bekennt und büßt.

Da ist Brünhild, von Odin in Todesschlaf versenkt, weil sie nach ihrem Willen dem Besseren den Sieg gab, und da ist Dag, dem Odin den Speer leiht zum Mord am Mann der geliebten Schwester. Und Geirhild, deren Kind im Mutter­leib dem Odin verpfändet wird, so daß Alrek höhnt: „Ich sehe hängen am hohen Galgen, Weib, deinen Sohn, dem Odin verhandelt!“

Man findet Odinsgegner und Odinverfallene, stolze Fürsten als „Odins­söhne“, und Odinsopfer in Menge, aber kaum einen „Odinsfreund“!

 

Zwei große Gedichte, Hauptzeugen des Walhallglaubens, bieten sich an. Das Erichslied eines Ungenannten: Es feiert einen brutalen Sohn des Harald Schönhaar und schildert, wie Odin selbst in seinem Saal die Helden sich rüsten heißt zu Erichs Empfang. „Warum er­wartest du ihn eher als andere Könige?“ fragt Held Sigmund den Gott. Und Odin sagt: „Viele Lande hat er mit dem Schwerte gerötet und ein blutiges Schwert geschwungen.“ „Warum nahmst du ihm den Sieg dann, wo er dir doch wacker schien?“ „Weil es ungewiß ist, zu wissen“, sagt Odin, „wann der gierige Wolf nach dem Sitze der Götter greift.“

Es ist seltsam, daß so viele von denen, welche das Erichslied ver­wenden als eines der ältesten und besten Zeugnisse für den Walhall-und Odin-Glauben, nicht für nötig halten, sich Rechenschaft abzulegen, für welchen historischen Menschen es gedichtet wird, aus welchem An­laß, in wessen Auftrag und Geist?

Man muß jedem das Recht bestrei­ten, solche Quellen religionsgeschichtlich zu verwenden, der nicht zu­vor Erichs dämonische Gattin Gunnhild und diesen Haraldsohn Erich Blutaxt selbst, seinen großen heidnisch frommen Gegenspieler Sigurd von Lade mit Frau Bergljot, die Söhne Gunnhilds und Erichs und den Sinn ihrer Taufe in England wie die Bewertung aller dieser Gestalten auf den freien isländischen Höfen genau kennen gelernt hat. Vom viel­fältigen, widerspruchsvollen Leben der Zeit erst kommt man zu dem Dichter, dem Erichs Witwe, des Lappenzaubers kundig, Auftrag gab, diese unwürdige „Blutaxt“ würdig zu besingen ( sofern sie über­haupt einen Dichter fand und nicht selbst die Dichterin ist).

 

*

Erichs und Gunnhilds Söhne werden dann durch den heidnisch from­men Jarl Sigurd von Lade und seinen Schützling König Hakon noch einmal aus dem Lande getrieben, dem sie eine Geißel waren. Auf diesen edlen Hakon, Christ im heidnischen Volk, aber ihm zurückgewonnen, dichtet ein großer, namhafter Dichter (jenes Erichslied äußerlich nach­ahmend) das Hakonlied.

Denn Hakon war an der Spitze seines heid­nischen Volkes gegen die aus England zurückkehrenden, nun getauften Erichssöhne gefallen (961), und die Seinen „wiesen ihn nach Walhall“, ihn, der sein Christentum aus frühester Kindheit nie abgeschworen hat, und doch in der Liebe seines Volkes stand, ohne noch die alten Bräuche und den alten Glauben zu teilen. In den Ahnenberg gehörte dieser christgewordene edle, letzte Sohn des Lehnsstaatgründers Ha­rald Schönhaar nicht mehr, aber seine Heimkehr ins eigene Volk und sein Dulden des Heidentums rief den Haß Roms gegen ihn auf, und die christlich gewordene Welt stieß ihn aus. So, tragisch zwischen den Fronten der Zeit, „wies“ ihn sein Volk „nach Walhall“, und sein großer Dichter Eyvind steht erschüttert vor diesem Toten. „

Eyvind dichtete:

„Walküren sandte der Gauten Gott (Odin), Kö­nige zu wählen, wer von Yngvis Geschlecht mit Odin ziehen und in Walhall weilen sollte.“

 

Der Dichter schildert den Kampf, „Odins Wet­ter“, die Schlacht unter blutrotem Himmel. Und er zeigt dann die Helden, die Gefallenen, wie sie mit schartigen Schilden und zerschosse­nen Brunnen, aber mit gezogenen Schwertern düster auf der Walstatt sitzen: „Dies Heervolk war nicht guten Mutes. Es hat den Weg nach Walhall zu gehen!“

Die Walküre sagt, gestützt auf den Speerschaft:

„Es wächst Gefolgschaft der Götter, da den Hakon mit großem Heer die göttlichen Mäch­te eingeladen haben.“

 

Da fragt Hakon:

„Warum entschiedest du so den Kampf? Wir waren doch der Gunst der Götter wert!“

 

Die Wal­küre weist darauf hin, daß doch der Sieg gewonnen ist, und mahnt zum Aufbruch:

„Reiten wollen wir zu grünen Götterheimen, dem Odin zu sagen, daß jetzt der allwaltende Fürst kommt, ihn selbst zu sehen.“

Und nun versetzt der Dichter uns nach Walhall. Odin heißt die Helden sich zum Empfang rüsten und Hakon entgegengehen. Aber Hakon sagt:

„Voller Ungunst scheint mir Odin zu sein. Hüten wir uns vor seinem Zorn!“

 

Odin begrüßt ihn und fordert ihn auf, die Waffen abzulegen und sich der Heldengemeinschaft einzugliedern.

„Aller Einherier Friedensschutz sollst du haben! Nimm bei den Asen den Willkommenstrank!“

sagt der vergöttlichte Ahnherr der Fürsten­dichter, Bragi, und erinnert an die Brüder und Ahnen, die der König hier wiederfinde.

Aber Hakon sagt:

„Unsere Waffen wollen wir selbst in Händen halten. Helm und Brünne soll man wohl bewahren. Gut ist es, sie griffbereit zu haben.“

Das Gedicht schließt:

„Da ward es kund, wie dieser König wohl gehütet und geschont hatte die Heiligtümer, als nun alle, die ratenden und waltenden Götter dem Hakon Heil zum Willkomm entboten. Zu gutem Tag wird ein König geboren, der sich solche Gesinnung er­wirbt. Sein Leben wird immer zu Gutem gewendet sein. Entfesselt wird nach dem Sitze der Götter der Fenriswolf stürmen, ehe ein eben­so guter Königsmensch die Pfade des Schicksals beschreitet. Es stirbt das Gut, es sterben Verwandte, verödet werden Feld und Hof. Seit Hakon davonzog mit den heidnischen Göttern, ward viel, was das Volk erlitt.“

 

Denn nun brach durch grausame Willkürherrschaft getaufter Ehrfurchtloser die Brudermordzeit der Ragnarök herein, in der Odins Helden den aussichtslosen, letzten Kampf kämpfen.

Aber wenige Jahre später erhebt sich der von Kaiser Otto II. bzw. dessen Unterlegenem, dem Dänenkönig besiegte Sohn jenes edlen Sigurd von Lade noch einmal und „stellt Thors verheerte Hallen wieder her,“ da­mit, wie Einarr singt, das Volk mit frohem Sinn die Heiligtümer wieder betreten kann, wo man nicht zum mindesten ,til ärs ok fridar‘, um gutes Jahr und inneren Frieden die Weihung vollzieht.

So also klingen die unmittelbaren Zeugnisse.

 

Hier taucht ein Her­schergott hervor aus den Bränden der Zeit, aus den sinnlos geworde­nen Bruderkämpfen, scheu, ja feindlich begrüßt von den Bauern und Helden des alten Selbstvertrauens, niemals vertrauenswürdig wie Thor, aber alsdann zum geistbewegenden Dichtergott erhoben und von großen Dichtern an den Höfen der „Länder sammelnden“ Fürsten neuen Herrscherrechtes geschaut und gepriesen als der schimmernde Gott des Ruhmes im Untergang einer Weltzeit.

 

Egil auf Island, Feind der Tyrannen, sieht ihn anders, so sehr er mit überragender Dichter­kraft sich der Weise der Fürstenskalden bemächtigt.

Welche Rolle „Wodan oder Odin als König und Stammvater der Sachsen, Schwaben, Langobarden, Dänen und Schweden“ usw. im Be­wußtsein der Historiker und der Fürstengeschlechter bis in die Neuzeit gespielt hat, auf Grund eben der Stammbäume, die die alten Schrift­steller des Frühmittelalters – erfabelt – hatten, wird z. B. an einem Buche deutlich, das ein Flensburger Genealoge, Prof. C. H. Moller, als „Ge­schichte der Familie Ahlefeldt“ 1764 herausbrachte, und in dem an­läßlich einer Hochzeit einer dänischen Prinzessin mit einem hessischen Prinzen genealogische Tabellen angefügt sind (worauf mich freund­licherweise Herr Otto Reimers, Ahrensburg, hinweist).

Der Gelehrte gibt mit Gründlichkeit diese Namensreihen mit Quellenangabe, zählt auch die vielen Vorfahren des Wodan auf, aber meint, da seien die „Scriptores“ wohl etwas zu weit gegangen und hätten „dergleichen hohe Ahnen aus dem Kopfe gemachet“.

 

„Von Wodan oder Odin an gehet alles gewisser . . . Dieser Herr (den man also etwa ins sechste Jahrhundert zu setzen hätte) hat den ganzen Norden bezwungen und cultivieret, sie die Runen und das Schreiben gelehret, viel von Moral in Versen abgefasset und sonst löbliche Taten getan.“

In der Tat ist das frühmittelalterliche Fürstentum so genealogisch mit Wodan-Odin verbunden worden, ebenso wie man ihm nachträglich alle heidnische Weisheit, z. B. in den eddischen „Sprüchen des Hohen“ zugeschrieben hat, auch wenn es sich um alte heidnische Bauernsprüche handelte.

 

Dem Volke blieb meist nur der „Wilde Jäger“, der schrek­kende Totendämon, lebendig. Der Religionshistoriker von heute kann in einem derart mittelalterlich hochgestellten Kulturbringer und Für­stenvater nicht mehr den altgermanischen Hauptgott sehen!

 

Quelle: „Der Gott Odin und sein Gefolge“ (Bernhard Kummer)

 

-> Der Gott Odin – 05

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