Eine germanische Stadt der Frühzeit


Haithabu – eine germanische Stadt der Frühzeit


Vorwort

Die deutsche Landschaft bewahrt bis heute eine große Anzahl von Denkmälern, die in ferne Jahrtausende unserer Geschichte zurückgehen. Die meisten sind schon verschwunden und durch die frühe Zerstörung unwiederbringlich verloren.

Steingräber und Grabhügel legen zumal im Norden unseres Vaterlandes auch heute noch  ein beredtes Zeugnis ab für die Totenehrung im alten Norden.

Es sind nicht nur die Funde in unseren Museen, die eine dem Kundigen verständliche Sprache vom Werden unseres Volkstums sprechen. Mehr zum Gefühl noch sprechen die einsamen Denkmäler in der Landschaft.

Im Volksglauben sind sie eng mit der Gegenwart verknüpft und dem Verstehenden erzählen sie vom Leben und Sterben vergangener Geschlechter, die nicht etwas Abgeschlossenes, Einmaliges bilden, sondern ein Glied in der unendlichen Kette unseres Volkstums darstellen, ebenso eng verbunden mit den Ahnen, wie mit den Enkeln und Urenkeln und so hineinragen in das Leben der Jetztzeit, Haltung und Leistung der Gegenwart bestimmend durch das von Geschlecht zu Geschlecht weitergegebene Erbe.

Von dem Geschick nicht der Einzelnen, sondern der Blut- und Schicksalsgemeinschaften, die uns als Stämme in der späteren Geschichte entgegentreten, sprechen die großen Burgen, die auch heute noch zu Hunderten im Lande erhalten sind. Hinter ihnen verbergen sich die großen, treibenden, historischen Kräfte der Frühzeit, die Spannungen und Bewegungen im Leben unseres Volkes, deren Erforschung ebenso reizvoll wie für das Verständnis der späteren Zeit notwendig ist.

Unter diesen, heute noch mehr gefühlsmäßig in unserer Anschauung wirkenden als wissenschaftlich in unserem Geschichtsbild verankerten Denkmälern aus der Frühzeit unseres Volkes, nimmt die Gegend zwischen Schlei und Eider eine besondere Stellung ein. Sie birgt das größte Denkmal, das wir aus der nordischen Frühzeit kennen, Haithabu, die große germanische Handelsstadt „auf der Heide” an der Schlei und das Danewerk mit seinen eindrucksvollen Wällen: den nordischen Limes.

Im historischen Bewußtsein Schleswig-Holsteins durch die aufopferungsvolle Forschertätigkeit vergangener Generationen fester verankert, tritt dieses Denkmal erst allmählich in den Bereich der deutschen Geschichte. Es beleuchtet einen Abschnitt germanischer Vorzeit, in dem noch einmal die ungebrochene Kraft des Germanentums gestaltend hervortritt, der Norden uns noch einmal in seiner unveränderten geistigen Grundhaltung entgegenleuchtet.

In manchem ein machtvoller Schlußakkord, der am Ende einer jahrtausendelangen Entwicklung klingt, der aber auch andererseits hinüberleitet zu dem nächsten Jahrtausend unserer Geschichte, die das Erbe der Vorzeit übernahm und aus ihm heraus die Geschicke Europas bestimmte.

Ein Führer zum Verständnis der hier dem Boden abgerungenen geschichtlichen Quellen soll diese Arbeit sein. Sie soll den Freunden unserer Forschung eine Hilfe bieten und ist geschrieben in der Absicht, einer interessierten, breiteren Öffentlichkeit die Ergebnisse der Forschung vorzulegen und Rechenschaft zu geben über das bisher Erreichte und die großen sich daran knüpfenden Fragen.

Wenn es ihr gelingt, das Verständnis für dieses große und schöne Denkmal unserer Vorzeit zu wecken und ein Führer zu sein auf dem verschlungenen Wege zu den Wurzeln unseres Volkstums und zur Quelle der im Leben unseres Volkes wirkenden Kräfte, dann ist ihr Zweck erreicht.


Einleitung

Als die Völkerwanderung, der Höhepunkt germanischer Machtentfaltung, abgeklungen war, da war der Riß, der die germanische Welt in zwei Hälften teilte, vollkommen geworden. Damals hatte sich der Norden vom Westen getrennt, nachdem die Anlage zu einer Zweiteilung des germanischen Kreises schon in der Bronzezeit, also zweitausend Jahre früher, zu erkennen ist.

Sprachlich, kulturell und religiös gehen die beiden großen Gruppen jetzt verschiedene Wege, wenn sie auch bedingt sind durch das gemeinsame Erbe, das beide fortführen.


Der westgermanische Kreis übernahm zu einem Teil wenigstens die Tradition des römischen Weltreiches und erhielt damals seine staatliche Organisation unter den merowingischen und karolingischen Königen, ein Vorgang, der verbunden war mit der Aufgabe mancher eigener Werte.


Der nordgermanische Kreis entwickelt sich auf heimischer Grundlage weiter und bewahrt das Vätererbe sehr viel treuer als der westliche.


In den letzten Jahrhunderten des ersten nachchristlichen Jahrtausends trat er noch einmal aus seiner Isolierung heraus. Damals erlebte Europa die legte germanische Völkerwanderung der Vorzeit, wenn auch die großen Völkerbewegungen mit dem Beginn rein „geschichtlicher“ Zeit nicht aufhören, denn sie setzen sich direkt fort in den großen, ostwärts gerichteten Völkerschüben des 11. und 12. Jahrhunderts, der ostdeutschen Kolonisation.

Zweieinhalb Jahrhunderte kühner Seefahrten und mehr durch mutigen Unternehmungsgeist als durch berechnende Planung bedingter Staatengründungen bilden den glanzvollen Abschluß germanischer Vorzeit: die Wikingerzeit.

Zwischen den beiden großen germanischen Kreisen war in der Völkerwanderungszeit eine Lücke entstanden. Angeln und Sachsen hatten sich eine neue Heimat gesucht, und ihre Stammsitze in Schleswig-Holstein und Hannover waren siedlungsarm, wenn auch nicht leer, geworden.

Von Norden her schob sich vor 800 in den von den Angeln aufgegebenen Raum ein neues Volkstum, das dänische vor, während die sächsische Besiedlung im westlichen Holstein aus den Bodenfunden ebenfalls klar zu erkennen ist. Hier berühren sich auf einer ganz schmalen Front zwischen Ost- und Nordsee die beiden großen Kreise.

Die jütische Halbinsel ist, wie schon in früheren Jahrtausenden, die Brücke von Norden nach Süden und umgekehrt.

Aber noch eine andere Änderung vollzog sich in der Wikingerzeit und gewann einen nachhaltigen Einfluß auf die Gestaltung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Grenzraum zwischen Nord- und Westgermanen. Es ist die Zusammenfassung des ganzen nordeuropäischen Raumes zu einem großen, einheitlichen Verkehrsgebiet, nachdem vorher Ost- und Nordsee getrennte Gebiete gewesen waren.

Diese Zusammenfassung bedingte die Schaffung einer Verbindung zwischen den beiden Meeren. Sie wurde erreicht durch die Überwindung der Wasserscheide an der Stelle, an der sie bis auf wenige Kilometer zusammengedrängt ist, zwischen der Schlei und dem Flußsystem der Eider. An dieser Stelle überquerte die große internationale Ost-West-Straße, die Nordosteuropa mit dem Westen verband, die Halbinsel und überschnitt den seit der Steinzeit begangenen Nordsüd-Weg, der die Verbindung zwischen Norddeutschland und Jütland herstellte. Durch diesen Schnittpunkt laufen die Fäden hin und her.


Dort liegt Haithabu, das Ausfallstor des Nordens gegen den Südwesten und die Brücke vom westgermanischen Kreis zum nordgermanischen.


Wir finden hier fast auf der schmalsten Stelle der jütischen Halbinsel das größte Denkmal germanischer Frühzeit, das wir überhaupt besitzen, den Halbkreiswall am Haddebyer Noor, die Stätte des alten Haithabu und das Danewerk.

Hinter diesen Bauten aus unserer Frühzeit treten uns die lebendigen Kräfte jener Epoche entgegen. Bei ihnen fühlen wir uns hineingezogen in die großen Spannungen jener Jahrhunderte, die weder erstmalig noch einmalig waren, sondern die im Rhythmus unserer Geschichte wiederkehren und das Leben der Nordmark immer wieder bestimmen.

Und wenn man auf den Wällen steht und heute über die Landschaft sieht, dann entsteht zuweilen vor dem geistigen Auge das Bild der großen Handelsstadt, dann glaubt man die Schiffe und glaubt das Leben am Hafen zu sehen, dann erlebt man die Kämpfe um die Stadt, von denen die kurzen Berichte Zeugnis ablegen.

Dann fügen sich die Funde, die uns der Spaten erschließt, und die nur die trümmerhaften Überreste einst pulsierenden Lebens sind, zu einem lebensnahen Bild zusammen, und jene Zeit wird noch einmal lebendig; wir erkennen die feinen Fäden, die von dort aus zu uns führen, auch wenn sie heute meist unter der Oberfläche verlaufen. Nur dann, wenn wir  die geistige Kraft besigen, das Bild dieser Zeit vor uns erstehen zu lassen, können wir uns einfühlen in die Bedingungen jener Epoche und können einen Standpunkt zur Beurteilung der Leistungen dieser Zeit gewinnen.

Ohne eine solche kritisch gezügelte Phantasie bleiben die Funde toter Stoff. Ihn lebendig zu machen ist ebenso Aufgabe der Forschung, wie ihn zu gewinnen. Denn die Erforschung unserer Vorzeit besteht nicht allein in der Aufstellung von Funden und Perioden, sondern auch in dem Suchen nach den unzähligen Verbindungen, die unsere Zeit mit jenen Jahrtausenden verknüpfen – denn die geschichtliche Zeit mit ihrer Dauer von 1000 Jahren oder 30 Geschlechterfolgen ist viel zu kurz, um die Erbanlagen eines Volkes grundsäglich zu ändern.


Die geistigen Kräfte unseres Volkes, die heute unsere Geschichte gestalten, können nicht im Laufe dieser kurzen Spanne von 30 Generationen entstanden sein. Sie gehen zurück in die Jahrtausende schriftloser Geschichte und verknüpfen die Gegenwart mit jenen weit zurückliegenden Zeiten.


Die Geschichte eines Volkes ist nicht gebunden an das Auftreten geschriebener Quellen, denn die Einheit geschichtlicher Ereignisse wird nicht bedingt durch die historischen Nachrichten, die mehr oder weniger zufällig auf uns gekommen sind, sondern durch das lebendige Volkstum, das die Geschichte trägt. Dort, wo dieses einheitliche Volkstum entsteht, und wo darüber hinaus die Wurzeln dieser Kräfte liegen, beginnt die Geschichte. Sie ist eine untrennbare Einheit, und alle Versuche einer Periodisierung entstammen mehr dem Ordnungsbedürfnis menschlichen Geistes als dem Ablauf der Ereignisse.

Wir sind heute noch gewöhnt, die beiden großen Abschnitte, Vorgeschichte und Geschichte, wertend nebeneinander zu stellen, einem allgemeinen Einleitungskapitel die eigentliche geschichtliche Darstellung folgen zu lassen, und doch liegen die Verhältnisse anders. Die Vorgeschichte bildet nicht die Einleitung zu unserer Geschichte, sondern ihre Grundlegung.

In den Jahrtausenden, die sie umspannt, entwickeln sich jene Kräfte, die uns später in der Geschichte wirkend entgegentreten. In jenen Zeiträumen formten sich die Elemente, die später die Entwicklung bestimmen.

Wenn wir noch immer an dieser Zweiteilung festhalten, so müssen wir dabei stets bedenken, daß es nur Unterschiede in der Forschungsmethode sind, die diese Spaltung rechtfertigen. Es ist allerdings in vielen Punkten schwieriger, die Frühzeit unserer Geschichte zu erforschen, denn es steht uns dafür nur eine trümmerhafte Überlieferung zur Verfügung. Außer der Sprache, die ja selbst eine Geschichtsquelle von größter Bedeutung ist, haben wir noch Ortsund Flurnamen, Sagen, Heldenlieder, Mythen, Volksbräuche und nicht zulegt die Bodenfunde selbst. Die auf die Erforschung der Sachaltertümer gerichtete Vorgeschichtsforschung bildet also nur einen Teil — den bedeutendsten vielleicht — in dem Bau der deutschen Altertumskunde.

Erst aus einer Zusammenschau dieser Einzelzweige ergibt sich ein lebensvolles Bild unserer Frühzeit.

Die Anschauung, die wir dann gewinnen können, zeigt uns die Grundkräfte unserer Geschichte oft viel klarer, als wir es im Verlauf der späteren Epochen erkennen können. Wo ein Volkstum in abgeschlossener Lage, ohne starke Beeinflussung von außen, in der Frühzeit entsteht, ist das Bild noch nicht so kompliziert, noch nicht so vielschichtig, wie in einer Zeit, wo sich die lebendigen Kräfte dieses Volkstums mit den Mächten der Umgebung in stärkerem Maße auseinandersegen müssen, wo sich Kulturkreise und politische Einheiten so vielfach überschneiden, wie in der späteren Geschichte.

Darum ist die Geschichte der Frühzeit so wichtig, denn dort sehen wir manches reiner, klarer als später. Nur wenn wir diese jahrtausendelangen Epochen überschauen, gewinnen wir eine Vorstellung von den biodynamischen Grundzügen unserer Geschichte.

Wenn wir ein so geweitetes Geschichtsbild im Auge haben, dann erkennen wir den großen Rhythmus in unserer geschichtlichen Entwicklung, dann erst gewinnen wir den richtigen Rahmen, in dem wir die einzelnen Epochen unserer Geschichte betrachten müssen. So kann man auch die Wikingerzeit nicht vom Hintergrund der allgemeinen Entwicklung loslösen, ohne das Verständnis für ihr Wesen und ihre Bedeutung zu verlieren, denn auch sie ist nur ein Glied in einer langen Kette.

(Auszug „Haithabu – eine germanische Stadt der Frühzeit“ von Herbert Jahnkun, Karl Wachholtz Verlag, Neumünster in Holstein, 1937)


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