Der Gott der lieblosen Macht und die Flammen der Zeitenwende

Der Gott der lieblosen Macht und die Flammen der Zeitenwende

Teil 9

Zwischen dem lichten Heiland, dem „weißen Krist“ auf Island, mit seiner himmlischen, gnadenreichen Mutter, der Island herrliche Lieder gedichtet hat, und jener lichten, makellosen Brünhild und ihrer Heldenzeit steht eine dunkle Macht des Todes im Tal des großen Zeitenbruchs. (s. rn. Arbeit „Midgards Untergang“, Leipzig 1927 (Diss.), 3. Aufl. 1933).

Darin züngeln höllische Flammen. Von hier wie von drüben sieht man sie und hält sie für den Teufel im Heidentum oder den im Christentum. Wollen wir sie sich spiegeln sehen im geistigen Leben diesseits und jenseits der Kluft, so sind wir wissenschaftlich genötigt, auch einmal heidnische Standpunkte einzunehmen.


Auch Cortez und Pizarro können uns nicht sagen, was in Montezumas Seele vor sich ging, als die von der Sage verkündete Wiederkehr des „weißen Gottes“ in eine Flut von Blut und Tränen fiel, und die grausigen, spanischen Schilderungen aztekischer Menschenopfer entschuldigen den Mißbrauch des Christengottes ebensowenig, wie der Fluch der Vernichteten ihn treffen kann. Menschenmacht und Menschenschuld enthüllen zwischen den Gärten Gottes ihre erschreckende Dämonie.


Wir zeigen sie nicht auf, um Götter oder Fromme anzuklagen, sondern nehmen sie als Nachweis menschlicher Verschuldung ernst – in jeder Konfession.

Weltuntergangspredigt erfüllt die Zeit vor dem Jahre 1000, in dem Island bekehrt wird. Und der große Weltenrichter der Apokalypse mit dem scharfen, lohenden, zweischneidigen Schwert, das aus seinem Munde geht, und „die Völker schlägt mit dem Schwerte seines Mundes“ (Mudspilli) sitzt in Snorris „Edda“ in „Muspellsheim“ und kommt als „Surtr von Süden“ mit lohendem Schwert mit den Muspellsscharen „am Ende der Welt“ und wird „alle Götter besiegen und die Heime mit Feuer verbrennen.“

Wilhelm Krogmann, der diese Dinge verschiedentlich nachgewiesenhat, erinnert an die Ankunft und Predigt eines sächsischen Klerikers Friedrich um 980 auf Island und auf die sich ergebenden Möglichkeiten einer Beeinflussung der eddischen Ragnarökvorstellungen, die durchaus unverkennbar ist.

Snorri Sturluson scheint tatsächlich den Weltbrandstifter Surtr der eddischen Ragnarök mit Christus gleichgesetzt zu haben, wenn er (c 52) als Bestes nach dem Götterende nennt, im Freudensaale „Gimle im Himmel mit Surt“ zusammen zu weilen, während dann ein Bearbeiter dieses „mit Surt“ herausgestrichen hat (Krogmann).

Die Menschen im letzten Lande Thors sahen in Loki und seiner Leben und Götter bedrohenden Sippe, in Fenriswolf und Midgardwurm, in Riesen, Surt und Muspellssöhnen, Zwergen und Dämonen aller Art die Feinde ihres Thor, ihrer Götter.

Und sie erlebten ihr Übermächtigwerden!

Denn Odin, der Gott des neuen Herrenrechts, der neuen Eliten und Fürstenhäuser, der erst jetzt zum Stammvater aller Götter und vor allem des Herrscherhauses Harald Schönhaars ausgerufen wird, schließt mit diesen Mächten einen Pakt der „Liebe“ entsagend um der „Macht“ willen, wie Wagner es richtig verstanden hat. Er schließt den Blutsbund ınit Loki zu unnatürlicher Bruderschaft, und mit den „Riesen“ den Vertrag, als Thor ferne ist, um die Halle seines Ruhmes hoch über alles zu bauen, auf Kosten der „ewigen Jugend“ der Götter.


Was bedeutet dieser Gott den Helden?

Und damit dem alten Heidentum des Nordens, der vor allem den Gottesnamen Thor auch auf Wikingerfahrten trägt?


Man sieht in ihm zumeist durch Snorri nach den Ragnarök zu Unrecht den Gott des Heidentums. Das ist so falsch, wie wenn man Sigfrid nur auf dem Weg zu Gunther sieht, statt vorher als freiesten Helden.


Der Odinsstammbaum der Fürsten spielt in den Heldenliedern kaum irgend eine Rolle.


Helgi wird in der Edda Abkomme Yngvis genannt, im Sinne der schwedischen Yngwäonensage. Odin tritt (getarnt) neben Regin, dem Zwerg, in der Jungsigurdsage auf, und gibt Ratschläge (s. u.). Das an sich von Göttern freie Heldenlied stellt sich vielfach unmittelbar gegen ihn. Man fürchtet ihn, mißtraut ihm, sieht ihn auf der „Gegenseite“. Das steht vollkommen in Einklang mit seiner Rolle im Mythos der Ragnarök und ebenso mit der Rolle, die er als Widerpart Thors und seiner Odalbauern und als Patron der neuen Herrenrechte, der neuen Eliten, spielt, das heißt, mit dem Gegensatz zwischen dem Freiheitsvolk Islands, das sein Heldenlied bewahrt, und dem Machtstaat Harald Schönhaars und seiner Paladine.

Die Heldensage ist frei von Göttern.

Und der gelegentlich auftauchende Odin ist eher Gegenspieler der Heldenfreiheit, als Förderer. Der Midgardschützer Thor, durch Sippe verwandt allem Volk, wie er heißt, steht als Mut und Kraft, wie seine Söhne heißen, in allen freien Herzen.

Nur gegen Odin, der Sigmund fällt und Brünhild bannte, können Sigurd und Brünhild noch einmal einen Tag der Freiheit und der Reinheit grüßen.

Man hat viel von jenem Flammenwall geschrieben, hinter dem Brünhild von Odin in Todesschlaf gebannt, auf den Erwecker wartet. Ich möchte weder eine neue Phantasiedeutung hinzufügen noch mich daran beteiligen, das große Bild textkritisch zu zerreden. Es scheint mir nur, daß diese Flammen kein heiliges Feuer des Heidentums mehr sind, sondern ein Trennungsmittel aus dem Reich der dämonischen Kräfte.

Es war begreiflich, daß sich gerade die Brünhild-Sigurd-Sage mit Odin als dem Gott der Ragnarök verband während der Burgundenuntergang und Gudruns große Rachetaten völlig frei von ihm blieben. Es geschah um Brünhilds willen. Nur in ihren Gedichten finden wir das, was Heusler einmal die „Jenseitsszenerie“ nennt.

Das große Gedicht von der Weissagung der Seherin steht als erstes in unserer Eddasammlung.

Die in ihm enthaltenen, anderweit ergänzten Ragnarök-Gedanken und Bilder haben das mythische Denken des zehnten Jahrhunderts beherrscht, mitten im Erleben einer wirklichen „Götterdämmerung“ in der Geschichte. Odins und Lokis Bund, Baldurs Träume und Tod, Odins Ratsuchen und Wandern, Friggs Tränen, Lokis Ränke, Fesselung des Wolfes, Thors Kämpfe mit dem großen Wurm und den Riesen, Utgards Drohung und Hereinbruch, Asgards Verpfändung, Verlust der Schwerthand Tyrs, der Waffe Freys, Verpfändung von Odins Auge, Odins Selbstopfer, Walhalls Weh und Untergang: die Fülle dieser Bilder und Gesichte wird überhöht und aufgelöst in der Vision vom Verbrennen und Verlöschen der ganzen Menschen- und Götter-Welt, die dann sich dennoch wunderbar erneuert. Und diese „Ragnarök“, das Götterschicksal, ist, wie es auch in einem Eddaliede (HH II, 43) heißt, gleichzeitig „aldar rof“, Wandel und Zusammenbruch einer Menschenzeit und ihrer Ordnung.


Die Götter dieser Mythen stehen daher nirgends vor uns in einem wohlumhegten Pantheon, und keine Glaubenslehre schützt ihr Dasein.


Sie sind wie die Götter in der Halle Jarl Hakons oder des Bauern Grimkel (in der Hardarsaga) alle „im Aufbruch von ihren Altären“. Die Götter sind entsprechend der Zeit, die ihr Bild gestaltet, alle auf dem Weg in die Unrast der großen Zeitenwende. Die Unruhe des Vergänglichen, des Wandels, ist in allem; Götter wie Menschen sind ihr verfallen; und untrennbar miteinander verwoben ist Götter- und Menschen-Geschick.

Man denke an Dichtwerke wie das Rolfslied, die Bjàrkamàl, an Hàkonarmàl und Eiriksmàl, an Egils Sohnesklage, Hallfreds Dichternot zwischen seinen alten Göttern und seinem christlichen König, an Grettirs und Gislis Dichterträume in der Not ihres Ächterlebens.

Alles bezeugt die alles erfassenden Ragnarök.

Das Sichlösen alter Sippenbindung, die Bildung neuer Herrenmacht im Volk, neuer Gefolgschaft und Unfreiheit, die Wandlungen in der Geltung der Frau, der neue Fluch des Goldes, die Unterwanderung durch fremde Knechte, das Anwachsen der lappo-finnischen Zauberkunst, das Überhandnehmen des Wiedergängerwahns, das Anwachsen der ganzen seelischen Unsicherheit und Heimatlosigkeit, dieses sichersten Vorboten einer neuen Bekehrung: alles dies kann heute noch jeder verständige Sagaleser nacherleben.

Über den erdfesten und doch einst himmelfüllenden Midgardschützer Thor erhebt sich in Norwegen und auch in den Herzen oder Gedanken isländischer Dichter – doch ohne je Kultrecht in Island zu erlangen – der Gott Odin.


Ganz im Gegensatz zu Thor, dem sicheren Freund der Seinen, ist in Odins Bild Unbeständigkeit und Schrecken.


Uralter Schauder vor göttlicher Unfaßlichkeit verbindet sich in erschütterten Seelen mit neuen Zweifeln und neuer Angst. So wird Odin der Gott der Verwandlung, des magischen Lichtes zwischen den großen Fronten der Zeit, des Übergangs und der neuen Begegnung mit Unbekanntem und Unheimlichem.


Er ist es, der im Heldenlied „Zwist sät unter Verwandte“, der „zwischen Schwäger Schuldrunen warf“, der „über alles Unheil waltet“, der den Bruder zum Mord am Gatten der Schwester bestimmt, und den Mordspeer leiht (Helgisage Dag. vgl. Knudsen), und der als „Mann vom Berge“ oder Hnikarr den zur Vaterrachetat segelnden Sigurd anruft und mitfahren will.


„Hier sind wir, Sigurd (u. ich) auf den Schiffen“, antwortet der Schmied Regin, der Zwerg, grimmig und zauberkundig. Er lehrt den Helden Kampflisten und Angangs-Aberglauben, und wohl auch jene „Blutaarritzung“ am gefällten Feind, über die dann Regin frohlockt, und die Regin selbst im Nornagest-Stück rät und mit Gests Schwert verrichtet. Denn auch Gest in bestimmtem Sinne Odin.


Dieser Odin ist in Wahrheit der Geist dieser Zeit, die an ihrer eigenen Zwiespältigkeit leidet – und schon in Zauberschlaf sinkend – mit letzter Kraft in der Walhall ihres Ruhmes ihre Helden sammelt zu einem letzten Kampf, der tragisch ausgeht.


Nicht den Besseren kann dieser Gott den Sieg geben. Und er bestraft die Walküre, die nach ihrem Herzen den Sieg dem Besseren verleiht. Die freie Heldenwahl deralten Zeit geht zu Ende. Lähmend fällt die Sorge in die Herzen, und auch dieser Sorge Bild wird in Odin Gestalt. Aber Island wehrt sich und hofft, den Bann zu brechen, hofft noch auf Wiederkehr des alten Heldentums. Es gab noch „Erwecker“ genug. Einige Jahrzehnte zumindest stand alles offen.

Dann kam die Jugend von Fernfahrt fremd und neu zurück. Und man sah auch schon etwas vom „neuen Licht“, jenseits des Tales dieser Umbruchsnot. Und versöhnte sich langsam mit dem Kreuz und seinen zunächst so gewalttätigen Wegbereitern.

In der erwähnten, späten Geschichte vom Nornengast „Gest“, der mit dem wandernden Odin verwandt erscheint, wird unserer Brünhild der Scheiterhaufen zugewünscht, den die Heidin wie die Ketzerin nach herrschend werdender Auffassung der Inquisition verdient. „Es wäre besser, du wärest lebendig verbrannt worden …, daß du allen noch verhaßter werdest“.

Aber Gest erzählt auch, wie er die Welt bewertet, diese sich wandelnde Welt.

„Die meiste Freude glaubte ich bei Sigurd und den Gjukungen zu haben. Bei den Lodbroksöhnen konnten die Männer am freiesten nach ihrem Willen leben. Mit König Erich von Upsala war das meiste Heil. Aber König Harald Schönhaar war am Sorgfältigsten in den Gefolgschaftssitten von allen namhaften Königen. Ich war auch mit König Ludwig im Sachsenland, und da wurde ich mit dem Kreuz gezeichnet, denn ich hätte sonst nicht dort sein dürfen, weil dort das Christentum wohl gewahrt wird, und dort schien es mir in allem am besten zu sein.“

Und schließlich sagt er von einer Fahrt nach Rom mit den Lodbroksöhnen der Wikingerzeit: Sie seien einem Manne begegnet, der ihnen an seinen abgelaufenen Eisenschuhen die weite Entfernung deutlich machte, und da seien sie umgekehrt und heerten seitdem nicht mehr im Süden. König Olaf, der norwegische Bekehrer, sagt darauf: „Es leuchtet ein, daß die heiligen Männer in Rom keinen Gewaltzug dahin wünschten; jener Geist wird von Gott gesandt worden sein, da sie so schnell ihre Vorsätze änderten, um nicht Rom, die heiligste Stadt Jesu Christi, ihren Plünderungen auszusetzen.“

Es steckt für einen Nordländer des 14. Jahrhunderts eine ganze Menge geschichtliche Europa-Kenntnis in dieser Fabelei.

Und der mythische Hintergrund offenbart die religionsgeschichtliche Wahrheit. Der Gast der Nornen, der Schicksalsgast dieser Zeitenwende, beendet mit der Taufe seine Erdenwanderung. Die Nornen haben ihm bei der Geburt ein herrliches Leben zugestanden, aber die jüngste hatte eine Kerze entzündet, mit deren Verlöschen sein Leben zu Ende brennen sollte. Die eine der Nornen löschte sie schnell und gab sie Nornagests Mutter und durch sie ihm selbst in Verwahrung. Nun holt der Greis sie hervor, seines Lebens heimliches Licht, nimmt die Taufe und läßt den König die Kerze entzünden. Und wartet, bis sie und er verlischt.

Den Hörern aber mochte mit diesem letzten Bild des sterbenden Wanderers auch die letzte Strophe des Liedes von Brünhilds Helfahrt, das er vortrug, stets lebendig bleiben (s. u. S. 59).


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