Die Bedeutung der altnordischen Überlieferung für die Geschichts- und Selbsterkenntnis Europas
Das Forschungsfach der „Nordischen Philologie“, hat in Island reichem Quellengut seinen Ausgangspunkt und seine unerschöpflichen Möglichkeiten. Aber man muß es als selbständiges Ganzes zu würdigen wissen, wenn man seine Bedeutung für die Sprach-Literatur-Kultur- und Religions-Geschichte erkennen will.
Es widerspricht dem Wesen und dem Reichtum dieses Faches, Anhängsel der Germanistik zu sein. Der Studierende der deutschen Sprache und Literatur, der es nebenher benötigt und benutzt, muß sich ebenso wie der Leser der Übersetzungen hüten, unreife Urteile über Bedeutung und Inhalt der Quellen zu fällen, da er das Ganze in seiner Entwicklung nicht sieht und versteht. Die weiten Möglichkeiten und folgenschweren Erkenntnisse dieses Faches sollen gewiß allen Gebildeten, zumal aber allen Philologen, Historikern und Theologen, bekannt gemacht werden; aber das billige Herausgreifen von Einzelheiten ist ein Mißbrauch, den die Oberflächlichkeit mit diesem Fache mehr als mit anderen treibt.
Man findet das Wesentliche nur, wenn man das Ganze sieht.
Aber es gibt „Eddaforscher“, die keine Zeile Saga lesen können, und Eiferer für irgend eine Meinung, die mit ein paar „Belegen“ aus dem engen Kreise dessen, was sie kennen lernten, das ganze alte Island und womöglich noch das ganze alte Germanentum ins Feld zu führen glauben.
Nicht einmal die Auswahl altnordischer Textproben für Schulbücher hat man den Fachleuten überlassen!
Anders steht es um die Frage, ob es nicht uns alle angeht, dafür zu kämpfen, daß eine wesentliche Quelle unserer Geschichts- und Wesens-Erkenntnis nicht immer wieder versiegt oder verschüttet wird.
Unser Lebensgrund ist nicht mehr so quellenreich und er dürstet nach Wahrhaftigem. Kein Denkender wird damit zufrieden sein, wenn ihm von Zeit zu Zeit seltsame Heiltränke gemischt und angeboten werden aus Quellen, die er selbst nicht finden kann. Wir wollen offene Wege sehen — und Fachleute am Werk.
Im „Hermes“ vom Jahre 1820 hat Wilhelm Grimm berichtet, wie seltsam zwiespältig, von Haß und Liebe hin und her bewegt und rätselhaft behindert, die Geltung dieses Faches und die Herausgabe seiner Schätze sich entwickelt hat.
Auch heute ist es nicht viel anders. Der Beitrag, den dieses Fach für die Geschichtserkenntnis Europas und für die Selbsterkenntnis seiner Menschen liefern kann, wird immer neu unkenntlich gemacht. Das Schicksal der Völker des Nordens, die damals dem „Reich“ gegenüber standen, machtvoll und gefährlich, und ihrem Heidentum noch so viel länger verbunden als wir, blieb weithin unbekannt und ungenutzt. Und wie man einst begonnene Textausgaben jahrzehntelang liegen ließ, so werden nun Texte mißbraucht, Mißdeutbares überbetont, Entscheidendes verschwiegen, ja, das ganze Fach „politisch“ abgeurteilt.
In schöner Einmütigkeit hatte sich die Wissenschaft. an die Arbeit gemacht und die zumeist in Kopenhagen liegenden literarischen Schätze Islands und des frühmittelalterlichen Skandinavien durchgearbeitet, weitgehend herausgebracht und erklärt. Norweger, Isländer, Schweden, Dänen, Deutsche (zeitweise führend), auch Engländer und Amerikaner, sogar Franzosen hatten ihren Beitrag geleistet. Die bei Niemeyer in Halle gedruckte „Altnordische Sagabibliothek“, die, bei Diederichs, Jena, herausgekommene Auswahl von Übersetzungen in 24 Bänden (Thule), die Textausgaben des dänischen Verlegers Munksgaard oder die neueren isländischen Ausgaben bezeugen dies. Der zur Jahrtausendfeier Islands 1930 in Kiel herausgekommene Islandkatalog von Olaf Klose, der 7916 Veröffentlichungen aufführt, gibt den besten Begriff von der fruchtbaren Gemeinschaftsarbeit am altnordischen Forschungsfach. Gewiß nahm sich eine in alten Zeiten nach Bewegendem und Erhebendem — oder auch nach abschreckend Heidnischem suchende — Phantasie oft mißbräuchlich dieser Schätze an.
Aber gerade unser Volk verlangte es, nach der Ernüchterung des ersten Weltkrieges, immer mehr nach historischer Wahrheit, in der Hoffnung, etwas Richtungweisendes und Erhebendes zu finden.
Man wollte Menschen sehen, Menschlich-Wahres, keine Theaterhelden und, möglichst auch keine Götter.
Phantasterei zog sich auf enge Kreise zurück und übte Eddamysterien hinter verschlossenen Türen. Diesem Wunsche kam unsere Wissenschaft langsam entgegen. Die Schriftquellen des Nordens begannen das Bild zu ergänzen, das eine „germanische Altertumskunde“ erarbeitet hatte. Man lehrte durch Wort und Bild, wie der Mensch einst in Nordeuropa sich kleidete, sich bewaffnete, wie er Häuser und Schiffe baute, schmiedete, pflügte, webte, Vieh züchtete, Korn säte, Tote bestattete, Göttern opferte. Ein volles Menschenleben begann sich zu enthüllen.
Dies aber vollzog sich in der Zeit unserer nationalen Ohnmacht, aber im Einklang mit der Forschung des Auslandes. Es war nach einem trennenden und erschütternden Weltkrieg ein Stück Aufbauarbeit, ein Stück gemeinsamer Selbst- und Herkunftserkenntnis, manchmal mit Rassenstolz oder nationalem Stolz gemischt, aber gerade durch die Einsicht in Dinge, die jenseits aller „Reichsgrenzen“ lagen, alles andere als eine nationalistische Einseitigkeit symphatisch eingestellte Erforschung dessen, was hinter den Wikingern, den Feinden des Karolingerreiches, lag, das Bekenntnis zu den nach Island auswandernden Freibauern und zu ihrem Widerstand gegen Volksentmündigung, Herrscherwillkür und geistige Freiheitsberaubung bahnte keinen Weg für neue „Kaiserherrlichkeit“ oder neue Völkerkriege.
Die Verkündung des cäsarischen Menschen oder gar des Übermenschen fand hier keine Nahrung. Darum war auch das Forschungsfach des Altnordischen kein Nutznießer eines sich zur Diktatur entwickelnden Staates. Es stand bereit, die schweigsamen Funde der Menschengräber alter Zeit zu ergänzen durch das lebendige Bild der Menschengemeinschaft und durch das lebendige Wort. Es stand bereit das einseitige Bild unserer Reichsgeschichte zu ergänzen durch den Blick von draußen, und unserem abendländischen Dünkel heilsam zu zeigen, wie sieh einst in den Herzen freier Bauern das herannahende Neue mit Kronenglanz und Kirchenmacht gespiegelt hat. Es stand bereit, hinter alle historischen Spekulationen das Bild der vielfältigen und doch von einem bestimmten Geist durchwirkten Menschlichkeit zu setzen und der modernen Seelenkunde — auch einer sogenannten Rassenseelenkunde (Clauß), die nicht wertet, sondern abgrenzt und erklärt, — den Einblick in ein selbständiges, sich offen bekennendes und anfangs noch nicht christliches Seelenleben zu offenbaren. Es stand bereit, der Missions- und Kirchengeschichte einen heidnisch-christlichen Sittenwandel zu zeigen, der Rechtsgeschichte ein Beispiel für den Wandel der Rechtsverhältnisse und der Staatsordnung, in seiner Bezeugung geschichtlichen Lebens und Werdens über fünf Jahrhunderte hin läßt es zu Tausenden Heiden und dann Christen sich bekennen, zeigt die Fruchtbarkeit treu bewahrter alter und lebendig erfaßter neuer Glaubensweisen ebenso wie die Mängel, und das Gemeinsame wie das Gegensätzliche diesseits, und jenseits der Taufe.
Aber seine Entwicklung wurde in dem Maße gehemmt, in dem das Bekenntnis zu Karl und Cäsar den Willen zum Volksrecht und zum Volksstaat übertönte. Und sogar die kostbaren, unersetzlichen Büchereien unserer verstorbenen führenden, deutschen Nordisten wurden ausländischen Antiquaren überlassen!
Wie viele bedeutsame Fragen der Sprach- und Literaturgeschichte sind bisher nur aufgeworfen worden und harren noch weiterer Antwort!
Die wesentlichste Bedeutung des Faches wird aber erst sichtbar, wenn man den Beitrag ins Auge faßt, den es durch Art und Inhalt seiner Texte der Geschichts- und Selbsterkenntnis Europas geben kann. Denn innerhalb unserer Völkerwelt gibt es selten einen Ort, wo man wie im alten Island in die Zeiten zurück wie voraus blicken lernt, wo sieh Wegweisung zu neuem Völkerleben verbindet mit Erinnerung an ehrwürdige Vergangenheit, wo sich jederzeit sogar das sonst so dicht vernagelte Tor ins bücherlose Heidentum öffnet.
Christen wie Nichtchristen, die das geschichtlich gewordene Geistes- und Sittenleben Europas durchdenken, treten immer wieder auf jene Schwelle der Zeiten. Aber zwischen Armin und Chlodwig ist Dunkel, und zwischen Chlodwig und Karl nicht minder. Nur bei den Schöpfern der isländischen Literatur kann man erfahren, was zwischen Thor und Krist geschah. Überflüssig werden dann manche geistesgeschichtliche Seiltänzereien zwischen Heidenmystik und Scholastik, wenn man dort Einkehr hält.
Aller Wissenschaft vom Beginn des christlichen Europa wäre es heilsam, sich erst einmal in die Schreibstube nach Skalhoit oder Thingeyrar zu begeben, wo im Ausgang de‘ zwölften Jahrhunderts, zu Barbarossas Zeit, eine alte Tradition heidnischer Herkunft sich mit neuem Wissen eint oder auseinandersetzt, und eine große Kunst erneuert, aber nicht in rückgewandten, zeitfremden Köpfen, denen ein heidnischer Odinsspuk den Weg in die Gnade und Zukunft versteht, nicht in heimlich das Heidentum wahrenden Sektiererherzen, sondern ganz offen und frei vor dem Kreuz.
Was hindert uns, daß wir uns diesen Menschen dort einmal anvertrauen, die allem so nahe standen, was wir zu wissen begehren?
Es sind nicht nur einige vernachlässigte Kapitel der Weltgeschichte, die man hier sehen oder anders sehen lernt, etwa der Kampf um die Ostsee, die Geschichte des schwedischen Reiches und seiner Kolonien im Osten, den Ursprung des russischen Staates, die Bedeutung der skandinavischen Warägertruppe im Kampf von Byzanz gegen Rom, die Kreuzzugbewegung im Norden, die Freundschaft des Kaisers Friedrich II. mit König Hakon Hakonarson von Norwegen, den Kampf der Dänen um England, Irlands norwegische Zeit, Islands und Grönlands Besiedlung, die Entdeckung Amerikas um das Jahr 1000 u. a.
Wichtiger als all dieses ist die vertraute Nähe, in die uns hier der lebendige Mensch der ersten Jahrtausendwende gerückt wird, und die Genauigkeit, mit der er uns gezeigt wird. Er spricht zu uns in tausend Gestalten, die sich zur Gemeinschaft zusammenfinden oder mit Waffen bekämpfen. Und damit erst wird uns das Urteil möglich über das Menschenmögliche jener Zeit des großen Übergangs.
Geschichtserkenntnis hat Gegenwartswert!
Viel wäre uns erspart geblieben, wenn wir uns rechtzeitig einen gemeinsamen Maßstab für die Bestimmung unseres Wesens wie aller Gewinne und Verluste unserer Geschichte erarbeitet hätten. Daran hat es gefehlt!
Hätten wir bescheidener von Island gelernt, so hätten wir viel Unheil bannen können. Wir hätten Licht und Schatten in der Völkerwelt und auch zwischen Christen und Nichtchristen gerechter verteilt, und auch hinter Bluttat und Verbrechen – unter Thors wie Christis Zeichen — ein Menschentum erkannt, das uns allen zugehört und das uns trotz aller seiner Irrungen lehrte, daß man das Recht nicht brechen, die absoluten Werte nicht leugnen, die Religion nicht lästern und vor allem die Tyrannei nicht gutheißen soll.
Wir hätten auch mit unserer „Germanenkunde“, von Islands Klarheit aus, Vertrauen und Völkerverstehen schaffen können.
Statt dessen berief man, von Cäsar, Karl, Machiavell und Nietzsche aus auf den Willen zur Macht vereidigt, nur den Schatten des Walhall-Gottes der Macht, zum Bau einer Herrscherruhmeshalle über neuem „Nibelungenuntergang“ entmündigten Volkes. Einst, im dreizehnten Jahrhundert und lange danach, erklärte man bei uns, daß Island, die Brünhildinsel, der Eingang zur Hölle sei. Man wollte es abschütteln und vergessen, und fast wäre es daran zu Grunde gegangen. Man brauchte seine Wahrheit nicht mehr, und man fürchtete seine Freiheit.
Auch im zwanzigsten Jahrhundert hat man sie erst zwar aufgerufen, dann aber nicht mehr zu benötigen geglaubt. Denn Islands Wort, das nach dem Urteil aller Fachkenner das maßgebende Richtwort für die Erkenntnis germanischer Kultur, Ethik, Religion und Sage ist, war zu eigenmächtig und zu klar. Blinder Glaube und Gehorsam, Fanatismus, Scheiterhaufen, Unterbindung freien Wortes, freien Rechtes, freien Glaubens: Wer könnte das von Island aus „germanisch“ nennen?
Stimmte das Ehevorbild eines Gisli und einer Aud zu dem, was man wollte und lebte? Entsprach die religiöse Duldsamkeit der Königin Unn, Christin im heidnischen Volk, und das Verhalten ihrer heidnischen Verwandten der neuen Unduldsamkeit gegen Andersdenkende? War der wehrhafte Bauerngott und das Gebet um gute Ernte und Frieden nicht zu elitefeindlich und zu pazifistisch?
Nein, dieses Schrifttum durchweht vom Zorn der freien Rede, und vom uralten Recht der „dritten Macht“ vor neuem Adel und neuem Klerus war nicht in allen Stücken willkommen. So blieb es vielfach beim Phantasiebild von germanischen Tugend- oder Trunkenbolden, und für den Historiker bei der Resignation, wie sie Theodor Mommsen aussprach:
„Die Germanen in ihrer nationalen Entwicklung darzustellen ist nicht die Aufgabe des Geschichtsschreibers der Römer; für ihn erscheinen sie nur hemmend oder auch zerstörend.“
Und weiter:
„Es gehört zur Signatur unserer Nation, daß es ihr versagt geblieben ist, sich aus sich selbst zu entwickeln; und dazu gehört es mit, daß deutsche Wissenschaft vielleicht weniger vergeblich bemüht gewesen ist, die Anfänge und die Eigenart anderer Nationen zu erkennen als die eigenen.“
Man darf nicht meinen, man könne die Aufhellung der Geschichte ihrer eigenen Fortentwicklung überlassen. Die nach Jahrtausenden hoher Kultur rasch untergegangene babylonisch-assyrische Welt hat stets weitergewirkt (oft unheilvoll genug), aber erst nach zwei Jahrtausenden, in denen wir Babylon nur durch die Bibel kannten, eroberte sich die Wissenschaft den Einblick in ihren reichen Nachlaß. Die hundert Städte und, Tempel der Mayas und Inkas blieben den weißen Siegern jahrhundertelang nur rätselhaft schweigende, anklagende Trümmer; erst jetzt begannen wir das Vermächtnis ihrer Menschen zu lesen und zu verstehen.
Es steht nicht viel anders um Armins und Thusneldas oder Widukinds Welt und um das ergreifende Bekenntnis derer, die im großen Zeitenwandel damals in Europa ins Schweigen verwiesen wurden.
Ihr Zeugnis kann die Völker um das Nordmeer auf ihre Herkunftsverwandtschaft verpflichten, damit wir einig werden und uns ganz verstehen. Eines der notwendigsten und klügsten Bücher unserer Tage, das Buch „Der Staat und der Mensch“ von Bischof Eivind Berggrau, Primas von Norwegen, zeigt auf jeder Seite die erstaunliche Fortwirkung des Geistes, des Ethos und Stiles seiner Ahnen, wie sie in der Islandsaga zu uns reden.
Kann jemand leugnen, daß das, was hier als Erbe Machiavells bekämpft und überwunden wird, auch schon im Kampfe Armins oder Widukinds, im Widerstand des skandinavischen Freibauerntums, im Aufbau der isländischen Demokratie und in den flammenden Reden des Königs Sverre der erkannte, feindliche Gegensatz war?
Aber der Bischof zollt dem, was im Norden älter ist als das Kreuz, nur bescheidene Anerkennung. Er schreibt:
„Gehen wir historisch zu Werke und betrachten wir die Kulturen, in denen unsere eigene ihre Wurzel hat, die Israels, der Griechen und der Römer, so sehen wir …“
Genügen wirklich diese drei Gevattern unserer europäischen Kultur, um den sauberen Rettungsweg zu klären und uns überzeugend zu machen, den jenes norwegische Buch uns zeigt?
Dem Seelsorger Norwegens stehen die Türen zum eigenen Vaterhaus noch selbstverständlich weit offen. Man sieht förmlich die alten Gesetzessprecher seines Landes aus ihrem heidnischen Schatten hervor und dem Bischof zur Seite treten und hört sie bitten: „Laß uns helfen in deinem trefflichen Kampf für das Recht der inneren Freiheit und der menschlichen Persönlichkeit gegen Vergewaltiger und Tyrannen, gegen die Vergötterung des Staates und der Menschenmacht!“
Denn so ist es wohl: Wie wir mit Staunen den Nachhall uralten Pharaonentums und der Säkularfeier des vergotteten Kaisers Augustus im äußeren Machtgepränge der päpstlichen Erscheinung in diesem christlichen Jubeljahr wahrnehmen, so hören wir mit ebensolchem Staunen im Bekenntnis des selbstverantwortlichen christlichen Gewissens zum ewigen Recht den Nachhall uralten Verlangens, von dem die Quellen der Brünhildinsel Island das klarste Zeugnis geben. [..]
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Quelle: Auszug „Brünhild und Ragnarök“ (Bernhard Kummer)