Europas Herkunft in neuer Beleuchtung

 

Im „Hermes“ vom Jahre 1820 hat Wilhelm Grimm davon geschrie­ben, wie seltsam zwiespältig, von Haß und Liebe hin und her ge­trieben, die Forschung an den altnordischen Pergamenten und Quellen sich entwickelte.

Über „die Lage des altnordischen Faches in unserer Zeit“ ist heute in vielem das Gleiche zu sagen wie damals. Heute, das heißt, nicht erst nach dem erneuten Untergang des neu ins Feld ge­führten germanischen Zeichens, aber nun vielleicht in der ernüchterten Wirklichkeit unserer Armut mit mehr Erfolg!

In altertümelnden Gesängen suchten die „Barden“ der Klopstock­zeit die germanischen Götter und Helden der im Jahre 1643 gefun­denen isländischen „Lieder-Edda“ wieder lebendig zu machen. Und weit entfernt von dem fachlichen Ernst, mit dem sich der Norden selbst bereits der alten Pergamente annahm, die ihm ein eigenes „klassisches Altertum“ zu enthüllen schienen, ließ man bei uns zu­nächst die mystischen Nebel sich über die frischen Quellen klarer Er­kenntnis breiten.

So eifrig auch Männer wie Johann Gottfried Herder oder David Friedrich Gräter den Dichtern der Zeit die Einkehr in Mythos und Sage des Nordens empfahlen, so wenig erfasste die Zeit — eine Zeit des Aufstands, der Selbständigwerdung und der Freiheitskriege — den wissenschaftlich-historischen Wert der Gesamtheit altnor­discher Quellen, von denen die „Edda“ nur ein kleiner, wenn auch bedeutsamer Teil ist. Und Klarheit liebende Geister wandten sich schnell aus den nordischen Nebeln wieder dem sonnenklaren Hellas zu.

Erst die große (Volksüberlieferung, Sprachgeschichte, Grammatik und Literatur mit gleicher Liebe umfassende) Wissenschaft der Brüder Grimm wies der „Nordischen Philologie“ ihren Platz und bewies ihre Unentbehrlichkeit für Germanistik und Altertumskunde mit seither gültigen und doch immer wieder vergessenen Argumenten. Aber dem weniger das Innere der Dinge erfassenden und auch weniger umfassen­den Geiste ihrer Epigonen blieb meist nur das rein sprachgeschichtliche Interesse an dem nordgermanischen Sprachzweig.

Der Beitrag, den jene Quellen für die Kulturgeschichtserkenntnis Europas und für die Selbsterkenntnis des europäischen Menschen liefern können, blieb dadurch dem Historiker des neunzehnten Jahrhunderts meist unsicht­bar – das Schicksal der Völker des Nordens, die einst dem Reich gegen­über standen, machtvoll auch und gefährlich, und ihrem Heidentum noch so viel enger verbunden als wir, blieb weithin unbekannt und damit ungenutzt für die geistige und politische Entwicklung. Und ein, Jahrhundert lang waltete das Zwielicht fort, das W. Grimm im Jahre 1820 über diesem Fache sah.

 

Begeisterung und seltsam wirkende Ab­neigung stritten darum, begonnene Textausgaben blieben Jahrzehnte liegen, Texte wurden missbraucht, Missdeutbares überbetont, Ent­scheidendes verschwiegen.

 

Noch einmal entstand ein „Bardengesang“ neuer Edda-Mystiker im zwanzigsten Jahrhundert. „Ariosophen“ kündeten die „geheimen“ Lehren der Alten. Erberinnerungsspezialisten traten politischen Füh­rern zur Seite.

Runen leuchteten geheimnisvoll in das entseelte Zeit­alter der Technik.

Aber auch Herders Hoffnungen schienen sich noch zu erfüllen. Dichter bemächtigten sich mit Hilfe neuer und besserer Übersetzungen der alten Stoffe — nicht mehr so sehr das Mythische, sondern nun schon das menschlich Bedeutsame und das historisch Beachtliche suchend. Hinter der Hansa und Störtebecker tauchten die Wikinger empor, hinter Karl und Widukind Göttrik und Haithabu. Islands letzte Heiden und erste Christen wurden wieder lebendig, und Leif Eirikssons Grönland- und Winland-Fahrten verdunkelten den Ruhm des Columbus. Und unser Volk, zwischen Machtanbetung und dem königlichen Glück der Freiheit, zwischen Cäsaren und Ket­zern, zwischen Folgen und gewissenhafter Selbständigkeit hin und her erzogen, begann Anteil zu nehmen an der freien Wissenschaft von der altisländischen Literatur. Was dann geschah, ist bekannt. „Nordisch“ ist heute verrufen.

Aber die Chronologie der Ereignisse gilt es festzuhalten!

In schöner Einmütigkeit hatte sich die Wissenschaft an die Arbeit gemacht und die zumeist in Kopenhagen liegenden literarischen Schätze Islands und des frühmittelalterlichen Skandinaviens durchgearbeitet, in Textausgaben herausgebracht, kommentiert und erklärt. Norweger, Isländer, Schweden, Dänen, Deutsche, auch Engländer (und sogar Franzosen wie Frederik Wagner) hatten ihren Beitrag geleistet.

Noch heute behauptet das gute Altnordische Glossar von Theodor Mö­bius aus dem Jahre 1866 einen Platz neben den Wörterbüchern Finnur Jonssons, Leiv Heggstads, G. Th. Zoögas, Sigfus Blöndals u. a. Noch heute setzt der Verlag Max Niemeyer, Halle, die „Altnordische Saga­bibliothek“ fort, die unter Leitung des Schweden Gustav Cederschiöld und der Deutschen Hugo Gering (Kiel) und Eugen Mogk (Leipzig) 1892 mit ihrem ersten Textband begann, durch Wolfgang Golfhers Herausgabe von Aris Isländerbuch eingeleitet wurde, und Finnur Jons­son, Bernhard Kahle, Andreas Heusler, R. C. Boer, Ale Roy Andrews, Christian Kaolund, E. Kölbing, W. H. Vogt, A. Lagerholm, L. Lars­son u. a. zu ihren Mitarbeitern zählt.

Neben der noch immer an Voll­ständigkeit und Gründlichkeit unübertroffenen „Geschichte der nor­wegisch-isländischen Literatur“ von Eugen Mogk (1904) stehen die entsprechenden Darstellungen der Skandinavier Finnur Jonsson, Jon Helgason und des Holländers Jan de Vries. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts durch Namen wie Theodor Möbius, Konrad Maurer u. a. ausgezeichnete deutsche Textforschung hat für lange Zeit, eigent­lich fast bis heute, wo nun Island selbst (Sigfus Blöndal, Sigurdur Nordal u. a.) die Führung in der Herausgabe und Deutung seiner alten Texte zu übernehmen scheint, den führenden Platz gehabt und wurde dankbar anerkannt Der zur Jahrtausendfeier Islands 1930 in Kiel her­ausgekommene Islandkatalog von Olaf Klose, der 7916 Veröffent­lichungen geordnet aufführt, gibt den besten Begriff von der fruchtbaren Gemeinschaftsarbeit am altnordischen Forschungsfach, das heute in Hans Kuhn, Wolgang Krause, Sigfried Beyschlag, Wolfgang Mohr u. a. noch wenige Vertreter hat.

 

Zwischen dieser positiv sachlichen Forscherarbeit und der in alten Zeiten nach Bewegendem und Erhebendem suchenden Phantasie stand anfangs das trennende Misstrauen, gegen die „trockenen Zunftgelehr­ten“ einerseits, gegen die Phantasten, Schwärmer und Dilettanten andererseits. Aber die Kluft wollte sich schließen!

Gewiss musste Wis­senschaft widersprechen, wo der Wunsch allein der Vater des Gedankens war!

 

Nach beiden Seiten, denn es gab auch einen vom „Heidenhaß“ dirigierten Wunsch, das Bild ins Negative zu verzeichnen. Das Verwandtschaftsgefühl mit dem Norden, der Ruf aus Dekadenz nach neuen Vorbildern der Stärke, Gesundheit und ungebrochenen Kraft, das antichristliche (und das „Recht des Starken“ verkündende) Ver­mächtnis Friedrich Nietzsches, die Großstadtsehnsucht nach urtüm­lichem Bauernleben, nach germanischer Unverdorbenheit, die — leider politisch meist unwirksam gebliebene — Abneigung unseres Volkes gegen weltliche und geistliche Herrschaftsformen und Entmündigun­gen „ultra montes“, meldeten Wunschbilder von germanischer Ge­meinschaft, Kraft, Gesundheit, Reinheit, Glaubensreife (oder auch Gottlosigkeit), Mündigkeit und Volksfreiheit an, die aus wider­spruchsvollen Quellen zu beweisen oft genug unmöglich war. Aber immer ernster verlangte doch unser Volk, das von dem Langemarck­-Erleben durch die Somme- und Verdun-Schlachten nach Spaa und Versailles ging, in seiner Ernüchterung die ungeschminkte, historische Wahrheit, hoffend, daß in ihr etwas Richtungweisendes und Erhe­bendes sich finde.

 

Man wollte Menschen sehen, keine Theaterhelden, und auch möglichst keine Götter mehr. Phantasterei zog sich auf enge Kreise zurück und übte Eddamysterien hinter verschlossenen Türen.

 

Und diesem Wunsche kam die Wissenschaft entgegen. Sie wurde in ihrer manchmal übertriebenen Skepsis überrascht davon, wie zumal die Fülle der Ausgrabungserfolge die Schriftquellen ergänzten und das Bild der Vergangenheit in eine keineswegs erwartete Kulturhöhe emporheben ließ. Und sie erarbeitete als „germanische Altertums­kunde“ das Lebensbild des Menschen aller Zeiten, zeigte durch Wort und Bild, wie er sich kleidete, wohnte, bewaffnete, Schiffe baute, schmiedete und webte, pflügte und Vieh züchtete, Tote bestattete und opferte: ein „volles Menschenleben“ in bisher dunklen Zeiten begann sich zur enthüllen und „wo mans packte, war es interessant“.

Dieser Vorgang, diese auch innerhalb der Wissenschaft neu ausge­löste Begeisterung und Bewunderung über vergangene Dinge, die nach jahrzehntelanger, sehr nüchterner und das Volk enttäuschender Forscherskepsis dem Geiste der Brüder Grimm wieder nahe kam (Friedr. Stroh). Sie entstand in der Zeit unserer nationalen Ohnmacht, sie befand sich aber im Einklang mit der neu belebten Forschung des Auslandes. Sie war in einem durch einen Weltkrieg verwirrten und erschütterten Europa ein Stück Aufbauarbeit, ein Stück gemeinsamer Selbsterkenntnis und Herkunftsbesinnung, manchmal mit rassenstolz und nationalem Stolz gemischt, (s. Kossinas bekannter und angefeindeter Buchtitel: „Die deutsche Vorgeschichte, eine hervorragend natio­nale Wissenschaft“), aber gerade durch die starke Einbeziehung des alten Nordens, durch die Einsicht in Dinge, die jenseits aller „Reichs­grenzen“ lagen, alles andere als eine nationalistische Einseitigkeit.

 

Sympathie für die Welt, die hinter den Wikingern, den Feinden des Karolingerreiches lag, Vorliebe für die nach Island ausgewanderten Freibauern und ihren jahrhundertelangen Widerstand gegen Volksentmündigung, Dynastenwillkür und geistige Freiheitsberaubung, bahnte keinen Weg für neue „Kaiserherrlichkeit“ oder gar für eine neue, die Völkerfreiheit bedrohende „Reichsidee“.

 

Noch viel weniger aber konnte diese Forschung ein Programm­punkt der Volksbildungs- oder Propaganda-Ministerien nach 1933 sein. Sie war vorhanden, wurde benutzt, auch teilweise abgelenkt und missbraucht. Aber sie ist nicht, wie viele Oberflächliche meinen, ein Produkt des Dritten Reiches.

Die sieben führenden Gelehrten, (dar­unter Andreas Heusler, Karl Helm, Cl. Freiherr von Schwerin), die Hermann Nollau im Jahre 1926 in seinem großen Werke „Germani­sche Wiedererstehung“ vereinigte, gaben sich weder als Nationalisten noch als Nationalsozialisten. Unter dem kühnen Titel wollte man die Widererstehung eines durch solide Forschung neu erkennbar gewor­denen Kulturbildes alter Zeiten, alte Sitte, altes Recht, alten Glauben, alte Sprachgeschichte, alte Kunst sachlich und liebevoll darlegen. Ich wüsste kein Beispiel dafür, daß man nach 1933 für dieses Werk Pro­paganda gemacht hätte, oder ein ähnliches geschaffen hätte.

Man wird zunächst mit Recht einwenden, daß zumal die „Vorge­schichte“ nach 1933 sehr gefördert worden ist. Das ist nicht zu be­streiten, wenn auch in zwei einander bekämpfenden, amtlichen La­gern. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Aufwärtsentwicklung jener Forschungs- und Aufklärungsarbeiten ins Dritte Reich einströmte und ebenso gebraucht wurde wie etwa die Jugendbewegung und ihre Errungenschaften und Führer in der Hitlerjugend gebraucht worden sind. Man wollte die neue Herkunftsbesinnung, das germanisch-euro­päische Verwandschaftsgefühl, den „Blut- und Boden“-Gedanken, eine bessere Sittlichkeit, ein neues Ehrgefühl, Selbstbewußtsein, Wehr­haftigkeit, ja auch das anfangs verkündete (und sicher von manchen Führenden ehrlich gewollte neue Volksrecht und den freien „Volks­staat“ gern wissenschaftlich vom Germanischen her begründet sehen.

Man sagte: „Herzog Widukind reitet wieder durch die Lande“, und zwar natürlich für die Freiheit und nicht für einen Cäsarismus. Man sang das Widukind-Lied und das Tell-Lied, beide dann verboten und vergessen, und man feierte die Stedinger und den „Bundschuh“. Es war auch Geist von 1848 noch in diesem Beginn. Ludwig Uhland, der Professor, Balladen-Dichter und Politiker, hatte ähnlich gehofft, und sein „Mythos vom Thor“ stimmte ebenso zu unseren neuen Hoffnungen wie Richard Wagners politische Schriften und sein Begriff vom Führer im frei urteilenden Volk, sein Hans Sachs und seine große Verkündung der „Erlösung vom Willen zur Macht durch die Liebe“ im „Ring der Nibelungen“ und „Parsifal“.

 

Aber das Ziel, das schließlich dominierte, hieß Reiches Glanz und Führermacht, nicht Völkerfreiheit, Geistesfreiheit, Volksrecht und Persönlichkeit. Karl trat vor Widukind, der Cäsar vor das Volk, der Übermensch vor den Hans Sachs und vor alle unsere nur „menschlichen“ und nur menschlich zu ehrenden „deutschen Meister“.

 

Und darum war das Forschungsfach des Altnordischen kein „Nutz­nießer“ im Dritten Reich. Es stand bereit, die schweigsamen Funde der Menschengräber aus alter Zeit zu ergänzen durch das lebendige Bild der Menschengemeinschaft und durch das lebendige Wort. Es stand bereit, das einseitige Bild unserer Reichsgeschichte zu ergänzen durch den Blick von draußen, und unserem abendländischen Dünkel heilsam zu zeigen, wie sich einst in den aus Recht gebundenen Herzen freier Bauern das herannahende Neue mit seinem Kronenglanz und seiner Kirchenmacht gespiegelt hat.

 

Es stand bereit, hinter alle histori­schen Spekulationen das Bild der vielfältigen und doch von einem bestimmten Geist durchwirkten Menschlichkeit des Nordens zu setzen, und der modernen Seelenkunde, — auch einer Rassenseelenkunde, die nicht wertet und verurteilt, sondern heilsam abgrenzt und erklärt, — den Einblick in ein selbständiges, sich offen bekundendes und an­fangs noch nicht christlich-katholisches Seelenleben zu offenbaren.

 

Es stand bereit, der Missions- und Kirchengeschichte einen heidnisch-christlichen Sittenwandel mit Licht und Schatten auf beiden Seiten zu enthüllen, und einer Rechtsgeschichte zu zeigen, wie Sippe- und Volksgemeinschaft ihr Recht verlieren oder sich wandeln sehen, und welche politischen und kulturellen Folgen daraus entstehen. In seiner Bezeu­gung geschichtlichen Lebens und Werdens über fünf Jahrhunderte läßt es zu Tausenden erst Heiden und dann Christen sich bekennen, und ist bereit, gegen Unduldsamkeit auch uns die Achtung vor An­dersgläubigen zu lehren, die Fruchtbarkeit treu bewahrter alter oder Gemeinsames diesseits und jenseits der Taufe aufzuzeigen, das sich nur „in tyrannos“ richtet, nach dem Worte jenes heidnischen Bauern­sprechers:

 

„Das scheint uns das Schlimmste an Tyrannei, wenn einer befehlen will, was wir glauben sollen.“

 

Drei Lehrstühle hatte das Fach seit Jahrzehnten. Kiel, Leipzig, Ber­lin. Es wurde nebenher innerhalb der Germanistik an den meisten Universitäten vertreten, wenn auch unregelmäßig und nur als philologische Ergänzung. Die Zahl der Studierenden dieses Faches, das eine Fülle lohnender Doktorarbeiten bereit hält, war wohl am stärksten in den Jahren um 1930. Sie ist nach 1933 keinesfalls gestiegen.

Die großen Vertreter des Faches und die warmherzigen Förderer der Is­landkunde, neben Gering, Mogk, Heusler, Neckel, Meißner u. a. auch ein Paul Herrmann oder Heydenreich, leben zumeist nicht mehr.

 

Ihre Privatbüchereien, unschätzbar wertvoll, gingen (auch nach 1933) z. T. an ausländische Antiquare; Gerings und Mogks Bücherei hätten als Grundlage eines Neuaufbaus dieses so wichtigen Faches Entscheidendes bedeutet, aber der neue Staat nahm sich solcher Dinge nicht an.

 

Man redete viel vom „Nordischen“. Nun, in der Zeit des lautesten Geredes verspielte Deutschland die Führung auf dem Gebiete der „Nordistik“. Mit immer wieder und unkluger Auswahl abgedruckter Leseproben aus der „Sammlung Thule“ (Altnordische Dichtung und Prosa in übersetzungen, Diederichs Jena) in den Schulbüchern war es nicht getan, vergeblich wurde die maßgebende Behörde auf die Unzuläng­lichkeit dieser Art „Verwertung“ verwiesen.

Die altisländischen „Emigranten“ interessierten den neukarolingischen Machtstaat immer weniger. Der naheliegende Gedanke, diesem Fach an jeder Universität eine Dozentur zu errichten, wurde nie erfasst. Die Doktorarbeiten gingen an Wert und Zahl zurück. Unausgeschöpft blieben die großen Möglichkeiten, von den altisländischen Pergamenten aus germanische Philologie und Altertumskunde wie auch die Erkenntnis mittelalter­licher Geschichte neu zu bereichern, und darüber hinaus gewisse Maß­stäbe im Denken der Gebildeten unseres Volkes wieder herzustellen, die uns verloren gingen durch die Herrschaft der Phrasen.

Wenn also mancher Gebrauch der Erkenntnisse des Altnordischen gemacht worden ist, zumal in der — manchmal tendenziösen und gegen das Mittelalter ungerechten Ausnutzung seiner heidnischen Momente —, so blieb doch das Wesentliche ungenutzt, und das Fach als solches wurde nicht entsprechend den sonstigen philologisch hat es noch viel zu geben, denn die Sprache seiner Quellen steht an Altertümlichkeit neben der gotischen; die Reichhaltigkeit des darin überlieferten übertrifft den gesamten Quellenbestand der Ger­manistik bei weitem, und das Stück nordeuropäischer Literaturge­schichte, das von der Saga-Insel aus erkennbar wird, ist noch längst nicht voll erarbeitet.

Manche bedeutsame Fragen sind nur aufgeworfen worden und harren noch der endgültigen Antwort, so etwa in der Kriegsdoktorarbeit eines dann im Osten gefallenen Studenten, die Frage nach der Bedeutung des Saga-Dialogs für Anfänge und die Entwicklung des europäischen Dramas oder andere nach Sinngehalt und Bedeutungswandel gewisser Wortgruppen, das Verhältnis von Leib und Seele, von Schicksal und Menschenwille, von Mensch und Gott­heit betreffend. Neue Quellengruppierung und Chronologie zumal neuerer isländischer Herausgeber zwingt zu neuer Stellungnahme und Überprüfung früherer Standpunkte; das Rätsel der kunstvoll leben­digen Sagaerzählkunst und die Entstehung der großen Sagawerke aus mündlicher Tradition oder aus mittelalterlicher Schreibkunst ist eben­so ungelöst wie der Streit um die komplizierte Skaldenkunst, um die Altersbestimmung gewisser Eddalieder, um die Bedeutung des Snorri Sturluson und seiner Werke, um Fragen der Übersetzungsliteratur, der Wikingerromane, der „Rimur“ und Legenden und Märchen, oder um die Geltung und das Alter skandinavisch-isländischer „Rechts­bücher“ und ihr Verhältnis zum Gewohnheitsrecht der Saga. Bezie­hungen dieser Literatur zu Irland, England, Frankreich und Deutsch­land, aber auch zum fernen Orient können noch besser aufgehellt wer­den.

Wie kommt die Prünhilt« als „Königin vom Isenstein“ mit ihren „Islanddegen“ zur Zeit Walthers und Wolframs ins deutsche Nibelungenlied an die Donau, zur selben Zeit, da Island — bei uns verfehmt — noch immer Brünhildlieder dichtet und schreibt, und sich selbst — Fjällkona« Island, das „Felsenweib“, — dieser größten Gestalt unserer Sage verwandt fühlt?

Was trugen die Gesandtschaften König Hakons von Bergen zum kaiserlichen Freund nach Palermo an geistigen Gütern, und was brachten sie an Ritterdichtungen, wie Tristan und Parzival, nach Norden an Hakons Hof zurück?

Wie lehrreich erscheint eine Stil-Betrachtung der eigenartigen Kunst des freien Wortes in den überlieferten Reden alter Bauernführer, Ge­setzessprecher, Könige und dann die Fortsetzung dieser Linie bis zu den überlieferten Reden Gustav Vasas und Gustav Adolfs!

 

Wie aufschlußreich sind Vergleiche zwischen den Weltuntergansvisionen im Süden und im Norden, zwischen der frühchristlichen Lyrik Islands und anderswo, zwischen den weltlichgeistlichen Erörterungen über die „zwei Schwerter“ und den Herrschaftsanspruch des Papstes bei uns, und etwa der altnorwegischen „Rede gegen die Bischöfe“ aus dem Jahre 1198, dem schwersten Jahre des von Rom gebannten Königs Sverrir!

 

Wer hat die eigenartige Wucht und Poesie der alten Rechtsformeln befriedigend erklärt oder die beschwingte, erstaunliche Sprachgewalt etwa des Mythos von den acht Winden im sonst so recht trockenen, lebhaft unpoetischen „Königsspiegel“ aus Norwegens drei­zehntem Jahrhundert?

Wie kommt die eigenartige, auch dem Feinde sein Recht und seine Ehre lassende Sachlichkeit und die lebendige Wirklichkeitsnähe der isländischen Verfasser norwegischer oder däni­scher „Königsgeschichte“ oder isländischer und grönländischer Besied­lungs- und Sippen-Geschichte zustande?

Wie kommen die Elemente des Abenteuerlich-Phantastischen in diese realistische Literatur?

 

Wie ist es möglich, daß zu gleicher Stunde am gleichen Ort heidnische Saga oder heidnische Götter- und Heldenlieder neben frommen Legenden vom Heiligen Olaf, Bischofsgeschichten und wahrheitsgetreuer Bericht vom Kampf eines im Banne gestorbenen Königs geschrieben werden können?

 

Aber das alles sind nur Vorfragen der Philologie.

Die wesentlichste Bedeutung des Faches wird wohl erst sichtbar, wenn man Wert legt auf den Beitrag, den es durch Art und Inhalt seiner Texte der Ge­schichtserkenntnis und Selbsterkenntnis Europas geben kann.

Im ersten Weltkrieg, 1916, erschien auf Island der erste Band eines Werkes, das wahrscheinlich noch kein Deutscher gelesen hat. „Aferdi á Island i thusund ár“, von Thorwaldur Thoroddsen. Es führt durch tausend Jahre, mit der Besiedlung Islands um 870 beginnend, bis 1900, sämtliche, das Wetter, die Naturkatastrophen, Seuchen und sonstigen allgemeinen Unglücksfälle betreffenden Berichte aus Annalen und historischen Quellen an. Die altisländischen Zitate – dem Isländer von heute mühelos lesbar – führen aus dem letzten Jahrhundert des Gottes Donar-Thor, der im Namen des modernen Verfassers noch doppelt enthalten ist!, hinüber ins Mittelalter, in die für Island dun­kelste Zeit des vierzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts und weiter.

Berichte von Frostwintern, Viehsterben, Schiffbrüchen, Vulkanaus­brüchen, Hungersnot, Seuchen, „Türken“-Plage: tausend Jahre Bau­ernnot und Daseinskampf ziehen vorüber, und oft werden Namen genannt vom ersten Siedler an.

 

Das heißt: Es gibt da einen Ort innerhalb unserer Völkerwelt, wenn auch sehr abgelegen von ihren Brennpunkten, wo uns die vergangenen tausend Jahre deutlicher vor Au­gen stehen als anderswo, und wo sich jederzeit sogar das sonst so dicht vernagelte Tor in die bücherlose Welt des Heidentums eröffnet.

 

Eine Ahnung davon, was das bedeutet, bekam unsere Zeit, als im Jahre 1930 das damals noch den Dänenkönig anerkennende Island zu einer staatlichen Jahrtausendfeier aufrief und seine Jubiläumsmarken mit Bildern aus der soll Landnehmerzeit und dem uralten Spruch seiner Demokratie: „Mit Gesetzen man Lande bebauen“ in die Welt schickte. Als 930 die zumeist aus Norwegen — nach langem, vergeb­lichem Kampf gegen den neuen Staatsaufbau karolingischer Art —in sechzig Jahren eingewanderten Siedlerfamilien sich auf der All­thingstätte, die heute noch das Heiligtum des Landes ist, zusammen­fanden, sich Verfassung und Rechtsordnung eines Staates gaben, rette­ten sie auch eine große, literarische und kulturelle Tradition vor dem Vergessen, und schufen Raum und Zeit für eine letzte Blüte heid­nischen Lebens.

Die vielgenannten Eddalieder entstanden zumeist in diesem letzten, heidnischen Jahrhundert, oder verdanken ihm die Möglichkeit späterer Ausprägung, und in ihnen lebt die weite ger­manische Welt, der Rhein, die Ostsee, das Gotenreich. Das kleine isländische Freiheitsvolk nahm diese alten Schätze mit in die neue Zeit, über die Schwelle der Taufe im Jahre 1000 hinweg. Es besann sich mitten im neuen Bildungsstrom, den es dankbar und offen hin­nahm, auf jene alten Dinge, und brachte alles in der sogenannten „isländischen Renaissance“, in der großen Literaturblüte um 1200, zu Pergament.

Christen wie Nichtchristen, die das geschichtlich gewordene Gei­stesleben und Sittenleben Europas durchdenken, treten immer wieder auf jene Schwelle der Zeiten.

 

Aber zwischen Armin und Chlodwig ist Dunkel, und zwischen Chlodwig und Karl nicht minder! Nur bei den Schöpfern der isländischen Literatur hat man fast mühelos er­fahren, was zwischen Donar-Thor, Wodan-Odin und Krist geschah.

 

Überflüssig werden dann geistesgeschichtliche Seiltänzereien zwischen Heidenmythos und Scholastik, wenn man dort Einkehr hält. Aller Wissenschaft vom Beginn des christlichen Europa wäre es heilsam, sich erst einmal in die Schreibstube nach Skalholt oder des Klosters Thingeyrar zu begeben, wo im Ausgang des zwölften Jahrhunderts, zu Babarossas Zeit, eine alte Tradition heidnischer Herkunft sich mit­ rückgewandten, zeitfremden Köpfen, denen ein heidnischer Odinsspuk den Weg in die Zukunft verstellt, nicht in heimlich das Heiden­tum wahrenden Sektiererherzen, sondern ganz offen und frei vor dem Kreuz!

Da schreibt Mönch Oddr oder Mönch Gunnlaugr das Leben des heiligen Königs Olaf, legendenreich, christlich ergriffen von seinem Märtyrertod für das Kreuz, das er brachte, da schreibt Abt Karl die Saga von König Sverrir, den Papst Innozenz bannte und ver­fluchte, (oder läßt die in Norwegen unter Sverrirs Augen begonnene Saga weiterschreiben, das Bild dieses großen Königs der Nachwelt sachlich gerecht zu erhalten); ein anderer, bescheiden verborgen blei­bend hinter dem geistigen Eigentum früherer Erzähler, schreibt eine Saga vom „Hochlandskampf auf der Zweitageheide“ (1014) mit dem herrlichen „Urfehdebann“, oder die Saga von den Leuten im Seetal, die das Schicksal von vier Generationen umfaßt, Menschen des neun­ten, zehnten und elften Jahrhunderts vorführt und unter dem „Gott, der die Sonne erschaffen hat“, aus Heiden Christen werden läßt. Oder ein anderer sammelt alte Spruchweisheit, alte Götterlieder, alte Hel­denlieder. Was hindert uns, daß wir uns diesen Männern anvertrauen, die allem so nahe standen, was wir zu wissen begehren?

 

Aber statt bescheiden über der Schwelle der Zeiten Einkehr zu hal­ten in solcher Gelehrtenstube Islands, in der die Gestalten einer Brun­hild und Sigurd wie eines Njal, eines Olaf des Heiligen und christlicher Lehrer bis Augustin einander begegnen, tummelt man lieber eine schweifende Phantasie im Gefolge des aus seinem Asgard vertriebenen „Dämons der Macht“ und „Wilden Jägers“ in der weiten Welt der germanisch-christlichen Begegnungen umher, bis man allen festen Boden unter den Füßen verloren hat und ganz nach Neigung ver­lästern oder verherrlichen kann (Höfler!).

 

Es sind nicht nur einige vernachlässigte oder sonst einseitig be­kannte Kapitel der europäischen Geschichte, die man hier neu sehen lernt:

Der Kampf um die Ostsee, der Ursprung des russischen Staates, der Kampf der Dänen um England hat die „Dänenvesper“, Göttrik, Haithabu, Birka und die Wikingerzüge, Irlands Bedeutung, Islands und Grönlands Besiedlung, die Entdeckung Amerikas im Jahre 1000 und — etwas im Hintergrund — die Geschicke des alten schwedischen Reiches und seiner Kolonien im Osten, die Rolle der skandinavischen Warägertruppe im Kampf von Byzanz gegen Rom, die Kreuzzugs­bewegung im Norden und die Bemühung der kaiserfeindlichen Partei im Norden, die Freundschaft zwischen Hakon Hakonarson und Friedrich dem Zweiten, die Hanse in Bergen u. a..

Wichtiger als dieses alles ist:

 

die vertraute Nähe, in die uns hier der lebendige Mensch der ersten Jahrtausendwende gerückt wird, und die Genauigkeit, mit der er uns gezeigt wird.

 

Er steht lebendig vor uns und spricht zu uns, in tausend Einzelgestalten, die sich zur Gemeinschaft zusammenfinden, oder in Fehden verzehren. Und damit erst wird uns ein Urteil mög­lich über das „Menschenmögliche“ jener fernen Zeit. Wer sich ver­tieft hat in die — Außerliches wie Innerliches genauestens offenbaren­den — Porträts eines König Olaf, Sverrir, Hakon oder eines Grettir, Nial, Gunnar, Egil, Ingimund, Gisli, einer Unn, Thorgerd, Hallgerd, Gudrun der Saga, der hat ein eigenes Urteil gewonnen über das Erle­ben und Erleiden menschlicher Geschicke jener Zeit, das mehr wert ist als alle Zahlenreihen der Kaiser und Päpste.

Soll man statt dessen wirklich lateinisch schreibende Kleriker be­vorzugt um jene Zeiten befragen, Saxo Grammaticus für die Dänen, Adam von Bremen für die Schweden usw? (vgl. Weibull).

 

Geschichtserkenntnis hat Gegenwartswert. Viel wäre uns erspart geblieben, wenn wir uns rechtzeitig einen gemeinsamen Maßstab für die Bestimmung unseres Wesens wie aller Gewinne und Verluste unserer Geschichte erarbeitet hätten. Daran hat es gefehlt.

 

Man kann sich denken, wieviel klarer unserem Volk die germanischen Wertmaß­stäbe geworden wären, wenn etwa dem Genius Richard Wagners, der nach der entstellenden Völsungasaga seine Ringdichtung schaffen mußte, die heidnischen Geschwister seiner Helden und Götter in nor­wegischen oder isländischen Bauernhöfen gegenwärtig gewesen wären, die erlebenden Zeitgenossen der Götterdämmerung, deren inneres Wesen er ahnte.

Oder wenn der Verkünder des „Übermenschen“, und des „Willens zur Macht“, Jenseits von Gut und Böse“, auf den sich der neugermanische Trotz gern berief, hinter den „blonden Bestien“ einer späten Wikingersaga, (geschrieben fünfhundert Jahre nach den Wikingerzügen), das Bauernhaus gesehen hätte, das einst diese Wikinge geboren und nicht ohne Sinn in die Welt der Taten geschickt hat.

Aber die zeitgenössische Wissenschaft eines Jordan, Simrock, Lachmann, Müllenhoff wies diesen Weg in die geschichtliche Herkunft dessen, was wir von Süden her als das Nordische sehen, nicht.

 

Daraus erhellt die Verantwortung, die wir Vertreter des Faches heute haben, und die Pflicht, Einseitigkeiten wieder gut zu machen, Ver­säumtes nachzuholen, Missverständnisse zu berichtigen und Missbrauch zu bekämpfen.

 

Die isländischen Dichter germanischer Heldenlieder, die Sagaerzähler ebenso wie ihre christlichen Aufzeichner und Saga­verfasser würden sich wundem, zu sehen, was unsere Zeit in ihrem „Willen zur Macht“ schließlich als das maßgebend Germanische in den Vordergrund gerückt hat, zwischen Tugendbolden und blonden Bestien, zwischen Göttersöhnen und Berserkern lebensfremde Kon­struktionen bauend.

„Warum“, würde Ari Thorgilsson, der Kluge, fragen, „seht ihr sie nicht, wie sie waren?“

Nicht einmal die Rassen­lehre hat sich der einzigartigen Gelegenheit bedient, die tausend Por­träts (mit je einem Dutzend Ausdrücken für Haar- und Augenfarbe usw.) jener historischen Gestalten eines zumeist germanischen Volks­tums zu studieren und die Betrachtungen der Alten über Ehe und Erblichkeit zu beachten. (Die Dissertation eines Isländers, E. Sig, Kvaran, Lektor in Greifswald, war ein Ansatz sachlicher Würdigung dieser Dinge.)

Hätten wir bescheidener von Island gelernt, so hätten wir vieles vermieden!

Wir hätten Licht und Schatten in der Völkerwelt und auch zwischen Christen und Nichtchristen gerechter verteilt, und auch hinter Bluttat und Verbrechen — unter Thors wie Christi Zeichen — ein Menschentum erkannt, das uns — nicht nur uns Deutschen —zugehört, und das uns, trotz allen seinen Irrungen, lehrte, daß man das Recht nicht brechen, die absoluten Werte nicht leugnen, die Reli­gion nicht lästern und vor allem die Tyrannei und Völkerknechtung niemals gut heißen soll. Wir hätten auch mit unserer „Germanen­kunde“ Vertrauen und Völkerverstehen schaffen können (Brunhild und Ragnarök).

Statt dessen beriefen wir den der Liebe entsagenden „germanischen“ Gott der Macht noch einmal zum Bau einer Herrscherruhmeshalle hoch über dem so ungermanisch entmündigten Volk und ließen schließlich die „Blonde Bestie“ für neue mitleidlose Bruderkriege frei.

Es blieb die ganze gefährliche Wirrnis unseres Germanenbildes, wie sie etwa ein unsinniges Wort in H. St. Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ kennzeichnet:

 

„Daß das Vorherrschen der Ger­manentums ein Glück für die sämtlichen Bewohner der Erde bedeute, kann niemand beweisen; von Anfang an bis zum heutigen Tage sehen wir die Germanen ganze Stämme und Völker hinschlachten oder lang­sam, durch grundsätzliche Demoralisation, hinmorden, um Platz für sich selbst zu bekommen. Daß die Germanen mit ihren Tugenden allein und ohne ihre Laster — wie da sind Gier, Grausamkeit, Verrat, Mißachtung aller Rechte außer ihrem eigenen Rechte zu herrschen usw., — den Sieg errungen hätten, wird keiner die Stirn haben zu behaupten, doch wird jeder zugeben müssen, daß sie gerade dort, wo sie am grausamsten waren, — wie z. B. die Angelsachsen in England, der deutsche Orden in Preußen, die Franzosenranzosen und Engländer in Nordamerika, — dadurch die sicherste Grundlage zum Höchsten und Sittlichsten legten.“ (Volksausgabe München 1912, S. 864).

 

Seltsame Lehrmeister zum „Sittlichkeitsgefühl germanischer Rasse“ hatte man sich erwählt!

 

Einst, im dreizehnten Jahrhundert, und lange danach, erklärten die gelehrten Mönche Saxo und andere, das Island der Eingang zur Hölle sei. Manche wollten es abschütteln und ver­gessen, und fast wäre es daran zugrunde gegangen.

Man brauchte seine Klarheit nicht! Man fürchtete seine Freiheit!

Auch im zwanzigsten Jahrhundert hat man sie erst zwar angerufen, dann aber nicht mehr zu benötigen geglaubt. Denn Islands Wort, das nach dem Urteil aller Fachkenner das maßgebende Richtwort für die Erkenntnis germani­scher Kultur, Ethik und Religion ist, war zu eigenmächtig und zu klar. Blinder Glaube und Gehorsam, Fanatismus, Unterbindung freien Wortes, freien Rechtes, Diktatur: Wer kann das von Island aus ger­manisch nennen?

Als der unsere Quellen wohlbeherrschende Rechts­historiker Cl. Freiherr v. Schwerin seinen schönen Vortrag „Freiheit und Gebundenheit im germanischen Staat“ 1933 drucken ließ, fügte er einem Satze, wonach den Germanen jede Diktatur fremd war, die Anmerkung hinzu, daß diese Feststellung nicht irgendwie als Zeit­kritik gemeint sei, aber ihre Geltung behielte!

Stimmte das schöne Treuevorbild der Ehe von Gisli und Aud oder die religiöse Duldsam­keit der Königswitwe Unn, Christin im heidnischen Volk, und das Verhalten ihrer heidnischen Umgebung zu dem, was man wollte?

War der wehrhafte Bauerngott und das Gebet „um Ernte und Frie­den“ nicht schon zu pazifistisch?

Kamen hier Wodan-Odin und das Herrenrecht seiner Eliten nicht zu kurz? (Höfler).

War die letzte Zu­flucht Donar-Thors und seiner freien Bauern und die duldsame, be­weglich freie Geistigkeit des jungen Christentums im Lande Thors nicht zu wenig autoritär?“

Nein, dieses Schrifttum, durchweht vom ,Zorn der freien Rede“ und vom uralten Recht der „dritten Macht“ vor neuem Adel und neuem Klerus, war nicht in allen Stücken willkommen. Und so bleibt es entweder bei dem Phantasieren über das Germanentum und unsere heidnisch-germanische Vergangenheit, oder bei der Resignation, die der Historiker Theodor Mommsen in den Sätzen ausspricht:

 

„Die Germanen in ihrer nationalen Entwicklung darzustellen, ist nicht die Aufgabe des Geschichtsschreibers der Römer; für ihn erscheinen sie nur hemmend oder auch zerstörend.“ Und dann: „Es gehört zur Signatur unserer Nation, daß es ihr versagt geblieben ist, sich aus sich selbst zu entwickeln; und dazu gehört es mit, daß deutsche Wissenschaft vielleicht weniger vergeblich bemüht gewesen ist, die Anfänge und die Eigenart anderer Nationen zu erkennen als die eigenen.“

 

Das Fach des Altnordischen zeigt einen Weg, von Norden her auch unsere eigene Herkunft und Entwicklung ergänzend zu beleuchten. Denn mit der Selbsterkenntnis fängt aller Neubau europäischen Kul­turlebens an.

 

Quelle: Europas Herkunft in neuer Beleuchtung (Bernhard Kummer)