„Aus Süden gekommen“, sagte Grönbech und „an den Länder sammelnden Fürstenhöfen verehrt.“ Dort gewinnt Odin sein Gefolge. Ein geistvoller Germanist, der damals auch für Karl den Großen im Sinne germanischer Großkönigsidee eintrat, schildert Odin einmal mit dem Satze:
„Herr der Elite, Führeridee und Großkönigsgedanke, Staatengründung, Tat, Loslösung, Nobilität, Führerglück, Erfolg bei Frauen, Glanz, Beute, Abenteuer, schimmernde Hochburg, fremde, weite Welt.“ „Hier ist nicht die bäuerliche Seite im germanischen Menschen göttlich verehrt, der Schritt vom Dasein zum Leben.“ „Zirkulation von Führern und Eliten“ schaffe die Geschichte!
„Herrenkaste Europas“, an die Nietzsche dachte, wäre also germanische Lehre! Das germanische Grundprinzip aber (vgl. Freiherr v. Schwerin, Freiheit und Gebundenheit im germanischen Staat, 1933) war:
Volk von Freien, Mann neben Frau, und über Volk und Fürsten das gleiche Gesetz und Recht.
Macht das nicht auch — und vielleicht besser — „Geschichte“?
Hans Naumann schrieb von dem germanischen Gefolgschaftsführer:
„Der Führer muß führen und verführen können zu jeder Haftung, die ihm vorschwebt. Er muß in jedem Einzelnen die Strukturen nach sich selbst umstruktuieren, bis sich Rausch und Qual des Anschlusses, die den Jünger wild durchschütteln, still vereinen.“
Hans Naumann schrieb und druckte 1943 auch einen Vortrag: „Versuch über Snorri Sturluson“ (Kriegsvorträge der Universität Bonn). Er führte die Worte an, die Snorri den „Dritten“ seiner seltsamen Götterdreifaltigkeit in dem ersten Teil‘ seiner „Edda“ dem fragenden Schwedenkönig Gylfi antworten läßt.
„Darauf vertrau ich, daß dieser Odin und seine Brüder die Lenker von Himmel und Erde sein werden. So denken wir, daß er heißen wird. Denn so heißt ja der Mann, den wir als den Größten und Herrlichsten kennen und wohl mögt auch ihr ihn so heißen lassen.“
„Snorri prägte damit so etwas wie die gute Germanistenreligion sagt Naumann. Nun, hier scheint nicht nur der alte Schwede Gylfi „verblendet“ oder verzaubert zu sein. Denn Snorri Sturluson in seinem Prolog zur „Edda“ sagt über Odins verzauberte Jünger“, die sich ihm in Hingabe anschließen:
„Wenn er seine Leute zum Kampf oder anderen Botenfahrten aussandte, hatte er die Gewohnheit, daß er ihnen zuvor die Hände aufs Haupt legte und ihnen Segen (,bjanak‘, ein irisches Wort für benedictio) gab. Die Leute glaubten dann, eine gute Fahrt zu haben. Wo immer sie in Not ,gerieten, riefen sie seinen Namen an.“
Und so eroberte sich Odin „viele Reiche“. Denn Snorri berichtet:
„In jener Zeit zogen die Römerfürsten weit durch die Welt und brachten unter sich alle Völker. Aber da Odin zukunftssichtig und zauberkundig war, wußte er, daß seine Nachkommen im nördlichen Teile der Erde herrschen würden.“
Und er siegte durch Magie! Er konnte durch Zauber jdreifaltigkeitemandem seinen Verstand und seine Kraft nehmen und sie einem anderen verleihen«.
Das tat er auch! — So unterrichtet Snorri die Dichter seiner Zeit.
Als den „Wanderer zwischen der östlichen und westlichen Welt“ bezeichnet die verdienstvolle und klar urteilende Dichterin und Soziologin Rogge-Börner diesen Gott. Aber sie resigniert vor ihm zu früh, wenn sie meint, hier werde einfach eine tatsächliche „asiatische“ Einwanderung etwa um 600 n. d. Zw. berichtet, und daher sei „auch die älteste Liederdichtung“ des Nordens „nach-wodanisch“, und wir müßten uns an die antiken Schriftsteller halten.
Man täuscht sich oft über die Nachweisbarkeit des germanischen Widerstandes gegen Schamanentum und Magie.
Wir stehen nicht mehr am Beginn der altnordischen Philologie. Über keine Wissenschaft mit über zweihundertjähriger Tradition wird so schnell der Stab gebrochen wie über die germanische Altertumskunde und Religionsgeschichte, diesen Tummelplatz der Unwissenschaftlichkeit.
Man muß nur immer sehen, wie mühevoll um den Kern der Wahrheit gerungen wird; man muß jeweils den Menschen kennen, wenn man über seine Werke und seinen Gott urteilt, und man muß möglichst alles einberechnen, was seine Zeit bewegt und was er wußte und wollen mußte. Und auch berücksichtigen, was gegen die „Verblendung Gylfis“ und seiner Nachfolger seit langem bis heute aufklärend gesagt worden ist.
Es gebührt gleichwohl dem kritischen Geiste Dank, der dieses Problem einmal wieder öffentlich zur Aussprache stellt, nachdem zumal Martin Nincks Wodanbuch vielen die Lösung des Problems vorgetäuscht hatte.
Den gebildeten Leser Snorris muß es erstaunen, daß die Germanistik ihm um Odins willen seltsam gläubig folgte, und daß Martin Nincks „Wodan“ nicht mit eindeutig klarer Quellenkritik als Schulbeispiel neuer Romantik durch die Wissenschaft gekennzeichnet worden ist.
Statt dessen schrieb ein Kritiker über Martin Nincks Wodanbuch:
„Ninck beweist unwiderleglich, daß und warum von der uralten Götterdreiheit Wodan—Donar—Ziu bei den Germanen geradezu Wodan zum schlechthin zentralen Gott geworden ist. Er war die sprengende Ekstase, als das Grunderlebnis heldischen Germanentums (furor teutonicus), das dem Gott Wodan seine Entstehung und überragende Bedeutung gegeben hat. Die Überlieferung des germanischen Berserkertums, die allverbreitet gewesenen Erlebnisse der „Entrückung“, d. h. der schweifenden Seelenausfahrt (!!!) — das Werwolfstreiben, der Verwandlungsglaube und kultische Maskentaumel, die ekstatische Sieges-und Kampfeswollust, der sturmverwandte Wandertrieb und viele ähnliche Erscheinungen sind wesentlich wodanische Phänomene.“
Gewiß ist die Sicherheit beneidenswert, mit der hier das „Allverbreitete“ festgestellt wird, aber ein germanischer Bauer der Bronze-, Eisen- oder Römerzeit wird nicht daraus, und schließlich machte nicht „schweifende Seelenausfahrt“ (!!!), sondern Selbstbehauptung und Bauerntreue ein Volk!
Das ist keine „Ausmerzung“ des Spannungsvollen und Dynamischen „mit Hilfe bürgerlich-moralischer Maßstäbe“, wie W. Hauer S. Rogge-Börner vorwirft, wenn wir uns auch hüten müssen, uns eine „unkomplizierte Menschlichkeit“ zu konstruieren. Es ist wohl eher das, was als Goethe-Wort gerade unter Hauers Aufsatz steht:
„Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen.“
Ich meine, dieser Gott sprach auch schon in jenen Jungen, die einst gegen lappischen Zauber wie gegen Odins Listen und gegen das erblindende Jüngerwerden im „Rausch“ der „Hingabe“ protestierten. Man muß sie doch wenigstens anhören!
Sie reden deutlich!
Martin Ninck in seinem poetisch-unchronologischen Wodansbuch überträgt sogar den ganzen Wodanskomplex mitsamt den Berserkern auf die ihm eindeutig widerstreitende Heldenfreiheit, auf unser Menschenvorbild, auf Brünhild-Germania und Siegfried-Armin.
„Sigurd ersteht als Held, nicht, weil er den Drachen tötete, sondern eine nicht geringere Kampfgier, Berserkerkraft und schreckende Wildheit bewies, wie sie der Lindwurm besitzt.“
Und Brünhild, von Held Sigurds „Berserkergang“ (sic!) geweckt, ist für Ninck „ein atemberauschender Trunk aus dem Minnebecher, ein Ewigkeitsaugenblick, wabernd, versprühend, wie der feurig umschließende Ring, aber mit Zauberkraft, tieferem Wissen, mit Schreckglanz und funkelndem Gold, mit ewigen Gedächtnis und ewigem Nachruhm krönend.
Ach, wir Unberauschten!
Wie helfen wir der schlichten historischen und doch im Grunde so „begeisternden“ Wirklichkeit gegen den dionysischen Berserkergang in der Germanistik und um sie her?
Seien wir froh, wenn diese „Wut“ wenigstens ohne „Maskentaumel“ und ohne „erschreckende Wildheit“ einherkommt. Dann zeigt sie auch Schönes in jenen Büchern und bewahrt uns vor zu großer Nüchternheit!
Denn wir danken jenen Arbeiten durchaus ihre Warnung vor der rationalistischen Mißdeutung.
Quelle: „Der Gott Odin und sein Gefolge“ (Bernhard Kummer)