Das altnordische Schrifttum

Eugen Mock hat in einer kleinen Schrift den religionsgeschichtlichen Wert der Snorra-Edda mit Recht abgelehnt.

Mit Snorris Asenvolk aus Asien (!) oder Aris Yngvi Frey aus Türkenland ist ja überdies nicht nur etwas Religionsgeschichtliches, sondern etwas Politisches (!), nämlich die Ableitung der Bekehrerdynastie Norwegens aus Asien, festgestellt.

„Die Welt lebte, als sei unsere germanische Dichtung nie gewesen“, sagte Friedrich von der Leyen einmal. Und gleich danach: „Das Christentum hat das Heidentum verklärt“. Ich glaube, man muss die große Tatsache planvoller Kirchenpolitik auch in der Literaturgeschichte mehr beachten.

Die Schöpfer der Eddalieder sind namenlose Dichter im Gegensatz zu den Skalden, den höfischen Sängern und Preislieddichtern des Nordens. Sie behandeln Helden- und Göttersagen mit hoher eigenwüchsiger Kraft nach altgermanischer Dichtart. Sie behandeln Stoffe, die im Volk lebendig waren, wie die dann auch ins norwegische Volkslied eingehende Sigurdsage. Sie umfassen mit weitem Blick die germanische Völkerwelt zwischen Rhein und Hunnenland, erinnern an gotische Landkämpfe wie an den großen Krieg der Wikinge.


Aber es ist ein Heldentum ohne (!) Götter und Gespenster, sagt Heusler. Von den Runensteinen her weiß man, daß das kein religiöser Nachteil ist: die Götter leben im Helden, aber lenken ihn nicht aus himmlischen Gefilden. „Kein Gott bereitet seine schützende Hand über ihre Helden und lenkt die Taten der Menschen“, sagt Friedrich von der Leyen.


Wer von den Runensteinen und damit den germanischen Gedanken über toten Gesippen und gefallenen Helden herkommt, kann es nicht missverstehen, was zwischen den „göttlichen“ Ahnen im Volke Tuistos und der Unerforschlichen, das im Weltbaum raunt, diese Göttergestalten mit Thing und Burgen und Waffenstolz bedeuten.


Dort wo nicht (!) zufällig die Lücke in unserer eddischen Sammlung klafft, das heißt, dort, wo nach der Begegnung Sigurds und Brynhilds und ihrem „Gebet“ das Diesseitige und Jenseitige echt germanisch sich einen, wo die Sigurdtragödie damit begründet wird, daß der Held die daraus folgende Verpflichtung im „irdisch“-tätigen Leben am Burgundenhof weniger bewahrt als die tiefer darum wissende Frau, dort (!) ist der Übergang für uns aus der Heldendichtung in die Religion.


„Fremdem Truge, Fürst, erliegst Du“ sagt Gripir in seiner Weissagung. Der Vergessenheitstrank, mit dem die Dichter sich helfen, verjagt nicht die Liebe selbst, sondern nur das alte Wissen von der GANZHEIT DES LEBENS, um die Brünhild noch weiß, indem sie von jener Stunde die religiöse Verpflichtung hinüber nimmt in die „Welt“ und dann im Tode die gestörte Ordnung wiederherstellt, und, sich tötend, neben Sigurd verbrennt.

Die fränkische Heimat unserer Dichtung wußte nach seit Chlodwig von dem „Schwert“, das der im Vergessenheitstrank betäubte Held vom Niederrhein zwischen sich und die Braut aus dem hohen Norden legte, als er sie warb für einen neuen Herrn.

Man kann das altnordische Schrifttum nur in seiner Gesamtheit betrachten, um seine Rolle als Volksüberlieferung aus heidnischem Geisteserbe und heidnisch-christlicher Wendezeit im Kampf der Kräfte damals und heute, zu verstehen.

Im Folgenden geschieht es durch Erwähnung von 12 Teilgruppen:

  1. Die Runenüberlieferung
  2. Das germanische Heldenlied im Norden
  3. Die Götterdichtung und die Sprüche heiligen Wissens und Recht
  4. Snorris Edda und die mythographische Entstellung
  5. Die Skalden
  6. Die Geschichten aus alter Zeit
  7. Die Bauerngeschichten Islands von der Landnahme bis zu den Sturlungen
  8. Die Königsgeschichten und die weitere isländische Geschichtsschreibung
  9. Die Bischofsgeschichten, die geistliche Fremdgeschichte und die christliche Dichtung
  10. Die Übersetzungsliteratur
  11. Das wissenschaftliche Schrifttum und die Rechtsbücher
  12. Die Rimur und Volksmärchen

Wer an diese Überlieferungen der Bauern, Helden und Gelehrten herantritt, erkennt sofort den alles tragenden Grund des heidnischen Erbes und den Wandel durch den Umbruch der neuen Zeit. Er beginnt deshalb nicht bei den Schreibern, sondern bei den heidnischen Denkern und Schöpfern (!) der Runenkunde, des Welt- und Götterbildes, des Heldenliedes und der Volkserzählung.

Sicherlich hätte der Norden, der 1500 Jahre vor den ersten uns erhaltenen Runenschriften und 2500 Jahren seiner Christianisierung und der erlernen des lateinischen Schreibens die hohe Kultur der Bronzezeit und seitdem einen durch die Jahrtausende gehenden Verkehr und Kulturaustausch mit fremden Schriftkulturen gehabt hat, sich, wenn der das Verlangen danach gehabt hätte, schon längst ein fremdes Schriftsystem „einführen“ können. Eine grundsätzlich andere Einstellung zur Überlieferung zeigt, daß er es nicht tat.

Das Bergen des Wissens im geschriebenen Vermächtnis wird umso nötiger, je weniger getragen wird durch das organisch weiterwachsende Wissen des ganzen Volkes. Eine andere Geltung der mündlichen Weitergabe, eine andere Geltung des gesprochenen Wortes und des noch nicht zum bloßen Buchstaben entwerteten Lautzeichens und Symbols finden wir im alten Norden als im Orient.

Im Übrigen aber müssen wohl die Runen eine noch größere Rolle gespielt haben, als man bisher annimmt aufgrund der zahlreichen Funde in acht verschiedenen Runenreihen oder Schriftsystemen bei allen germanischen Stämmen. Sie müssen im Gebrauch zu hoher Bedeutung gewachsen sein, und es befriedigt wenig, wenn man sie – mögen sie „entlehnt“ sein oder nicht – nur als eine Art unzureichende Vorstufe des Schreibens bis zu der dann eingeführten lateinischen Schrift anspricht. Wo wäre ein schriftloses und der Fähigkeit des Schreibenkönnens entbehrendes Volk, das drei oder vier Generationen nach dem ersten Einblick in die Schriften der Mönche die Laute der eigenen Sprache mit so viel grammatischem und phonetischem Verständnis erklären und den fremden Schriftzeichen gegenüberstellen konnte, wie es der Verfasser unseres ersten isländischen grammatischen Traktats (siehe die gute Übersetzung Gustav Neckels, Thule, 20, S. 334) vermocht hat?


Jedenfalls ist das Zeugnis der Runen, von jenen, die auf dem Sockel des Löwen am Piräus von Nordland zeugten, bis zu jenen, die in Grönland sich fanden, endlich als solches nach eigenen heidnisch-germanischen Wertmaßstäben zu messen, statt als „Runenalphabet“ (!) und Vorstufe unserer ABC-Schützen.


Island bestätigt den Gebrauch der Runen auch abgesehen von den hier fehlenden Runensteinen und beweist, daß nicht nur der Schwendenkönig Björn sie kannte, der einen Brief in Runen an Ludwig den Frommen schrieb (Vita Anskarii c, 11). Aber es macht auch durch das Kulturbild seiner Bauern unwahrscheinlich, daß es sich bei solchen Runen um „litteras deformatas“, entstellte Schriftzeichen, entartetes Lehngut aus der Fremde handeln kann. Das jahrtausendlange Festhalten an ihnen trotz so vieler Berührung mit der römischen und griechischen Welt wäre unerklärbar. Erstaunlich groß und einheitlich ist die Sitte der Runenverwendung.

Allein in Schweden fand man über 3000 Runendenkmäler.

Auf Gotland haben wir noch aus den Jahrhunderten um die Reformation 200 solche Minnesteine mit Runenbeschriftung. Im Jahrhundert Luthers schrieb der dänische Admiral Gyldenstierne 5 Seiten seines Loggbuches in Runen. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts wurde im Kloster zu Doberan ein Anthyr-Lied aus dem 16. Jahrhundert in Runen gefunden, das Anthyr, einen Kampfgenossen Alexanders des Großen als Stammvater der mecklenburgischen Herzöge bedingt.

Auf nordischem Hausgerät des 17. und 18. Jahrhunderts finden wir Runen noch und es gab nach Bernhard Reis noch 1905 alte Leute in Dalekarlien (Dalarna), die Runen legen konnten. Der Kampf, den die Kirche gegen die teuflischen Zeichen führte (sie lehrte ja zum Teil schon die heimliche Sprache als heidnisch und unwürdig, Heiliges zu sagen), wurde nach der Reformation, in der sich das Volk auf manches verketzerte Erbe wieder stärker besann (Hausmarken), erneut durch behördliche Verbote auch im Norden festgesetzt; so wurde 1626 auf Island ein Mann nach Ketzerprozess verbrannt, weil sich unter seinen Schriften ein einziges Runenzeichen befand! Man kann von hier aus ermessen, welches – Wunder – die Erhaltung etwa der eddischen Runensprüche ist!

Danach scheint ein weit verbreitetes Runenwissen in heidnischer Zeit vorauszusetzen zu sein. Die These Björn Magnus Olsens, von Gustav Storm und Adolf Noreen, dann besonders von Finnur Jonsson erörtert und abgelehnt, aber schon von Eugen Mogk zum Teil wiederhergestellt, gewinnt heute neue Bedeutung:

„Olsen meinte, daß die Isländer schon vor Gebrauch der lateinischen Schrift einen großen Teil ihrer geistigen Erzeugnisse, namentlich Gesetzte und frühe historische Schriften mit Runen auf Pergament geschrieben hätten“ Mogk weist darauf hin, daß in historischen wie in halbmythischen Sagas oft von Nachrichten wie von Helden- und Preisliedern berichtet wird, die auf Stäbe mit Runen eingeritzt waren. Aus dem Jahr 1235 wird uns in der Sturlungensaga berichtet: … da fand ich diese Weise in G. auf Runenstäbe geritzt…“.

In Island wurde durch Männer wie Sämund, der seine Geschichte wohl unter Einfluss von Bedas „Historia ecclesiastica“ lateinisch schrieb, solchem Runengebrauch ein Ende gemacht.

Das – auffallende – Fehlen alles Geschriebenen aus dem ersten christlichen Jahrhundert Islands wird wohl nur durch die Annahme mancher Vernichtung erklärt. Aber das Vermächtnis der sagakundigen Wissenden, hat sich dann doch als stärker erwiesen, und Sämundr lebt in der Erinnerung des Volkes als Schwarzkünstler fort, der solche Kunst in Paris bei einem „Meister“ lernte.


Island befreit uns auch von dem Wahn, die Runen in erster Linie als Zauberzeichen statt als heilige Symbole und als Schriftzeichen zu sehen.


Der Runenzauber in der Egilssaga ist etwas Spätes wie wohl aller Liebeszauber in der Runenverwendung. Der rassisch bestimmte lappo-finnische Anteil an der zauberischen Verwendung des machtvoll-heiligen Wortes und Zeichens zu einem die Naturgesetze wunderbar aufhebenden, muss auch hier beachtet werden; es ist auch – kein – germanisches Erbe, wenn man im Mittelalter Buchstaben und Bibelsprüche nebst Sinnzeichen fremder Herkunft zu aller Art von Magie verwendet (!). Und es ist kein Zufall, daß der alte Wodan nur wenig in älteren Runeninschriften – vor allem einmal neben dem die Ehe weihenden Donar vorkommt, dann aber in der Mythologie Snorris, die Odin als Priesterkönig mit seinem Priestervolk (!) aus Asien einwandern lässt, aus dem Sturmgott der Erkenntnis den Gott der Magie und des Runenzaubers wird.


Die wachsende Gefahr des Aberglaubens und des Zauberunwesens, das die Bauern in Island hassten und bekämpften, fällt zusammen mit der Zauberverwendung der Runen und dem Machtzuwachs des „unheimlichen“ Gottes.


Der Odin-Runen-Mythos in der Edda, zweifellos ein Anklang an den sterbenden durch Tod und Auferstehung neues Wissen bringenden Gott von Golgatha, bestätigt nur das Gesagte. Der Gott der Könige, der „Nobilität“ (nach Naumann), der Kriegerhalle und des Wikingerbundes konzentriert sich auf das alte Erbwissen des Volkes und durch seine Verwandlung durch das Göttersterben hindurch kommt es in die Hände des Auferstandenen und seiner Könige und Priester.

Im Volksglauben hat sich bis in die Neuzeit die Vorstellung erhalten, dass Wodan zur Zeit der Herbststürme in der Wilden Jagd mitsamt dem Heer der Verstorbenen durch den Himmel bewegt. Neben Odin/Wotan/Fuotan/Wodan soll auch die Göttin Frigg (Frau Holle) an der Wilden Jagd teilhaben. Der Hrungnirmythos wird durch Snorri Sturluson in dessen Prosa-Edda aus dem frühen 13. Jahrhundert, im Skáldskaparmál, in epischer Breite geschildert. 

Was vom heidnischen Wodan-Odin übrig blieb, etwa im wilden Jäger oder in dem stolzen Bild Walhalls, hat uns das Runenwissen nicht gerettet. Wir danken es auch nicht den Kriegerbünden oder einer geheimen Priesterschaft. Bauernhöfe hielten es fest, an den Stirnen seiner Häuser in den neuen Städten wahrte es das Volk und auf den Steinen, die Gesippen einander, allem Volke sichtbar, setzten, lesen wir die alten Zeichen.

Nicht so sehr Zauberzeichen, sondern Weltschau-Symbol, Gottesruf und Heldengedenken – und dies vor allem (!) – ist das Grundmotiv unserer Runenüberlieferung. Gewiss gibt es Totenbannung und Rätselschrift, aber älter und überlegener erweist sich ein klares und uns durchaus ansprechendes Verwenden dieser Schrift- und Sinnbildzeichen zu Heldenlob, Waffenweihe, Sippenbekenntnis, Totenehre oder Freundschaftswünschen, und dahinter zu einem Bekenntnis einer Frömmigkeit, die jeder einseitigen Hinwendung auf das „Magische“ und den „Herrn des Zaubers“ widerspricht. Und deshalb verflicht die Edda ins höchste Heldenleben wie in das Sigurds und Brynhilds des Runenwissen unmittelbar nach dem feierlichen Anruf an die Mächte des Lebens.

Man kann doch nicht wahrscheinlich machen, daß die verrätselten Beschwörungen des Eggjumsteines, weil sie „primitiv“ sind, bei uns älter und wesentlicher waren als die klaren Weihinschriften oder Totenminnesteine. Religionsgeschichtlich wird man auszugehen haben von dem GLAUBEN an die wirksame MACHT des Menschen, seines Wortes, Wünschens und Gelobens, ein Glaube, der hier keinem Schamanismus dienstbar scheint, sondern der großen Meinung aller Arier VON SICH SELBST und ihrer schöpferischen Edelart entspricht.

Die sich Arier nannten oder sich von Tuisto und Yngvi ableiteten, setzten, das Böse zu bannen, das Wort „unantastbar“ oder „heilig“ zu der Ritzung: „Der Goten Besitz“, als sie ihren Goldschatz (vielleicht den des Atnanarich) bei der Flucht vor den Hunnen vergruben. So sind die Wunschformeln etwa auf den Schwertern oder Frauenfibeln von hier aus zu verstehen, und NICHT von der MAGIE her. „Ich Godahild weihe“, „Ich Arsiboda wünsche Segen“, „Ich gebe Glück“, „Genieße des Grabes“, „Der Ehrenrunenreihe barg ich hier, Kraftrunen. Durch Argheit rastlos, heimatfern, sei (ist) eines tückischen Todes, wer dies zerstört“. „Ich malte diese Runen“.

Das religionsgeschichtlich und für diese Arbeit Bedeutsame und für diese ältesten unmittelbaren Schriftzeugen des Nordens ist das WISSEN von der seelischen Macht dieser von jeder Priesterschaft freien Menschen.

Aber das ist kein den Göttern abgelisteter Zauber, keine schwarze Magie. Das ist nichts anderes als das freie Nebeneinander von Mensch und Gott wie dann in der Saga: „Thorolf seinem Gunstfreund Thor“.


Die Menschen zahlen damit keinen Zehnten für die Rettung ihrer Seelen durch die Mittlerschaft. Und so waren sie schon vor Armin und sind es in Island noch im zehnten Jahrhundert. Frauen und Männer!


Zumal die Frauen kannten die Runen, wie sie die Ahnen kannten, wie Gudrun und Sigrdrifa in der Edda, wie Thorgerd in der Saga, oder wie jene Uwa von der Spange von Nordendorf (bei Augsburg), die ihre Gabe dem Freund mit den Worten versah: „Die Heirat ersiege )!? Wodan, weihe Donar, Awa dem Leubwini“. Dieser zuerst gefundene Runenfund auf deutschem Boden sagt viel über den klaren Stolz dieser Menschen! Ihr Wort in Runen hatte Macht und Sinn, und sie brauchten es im Lichte ihrer Götter. Von der Macht der Schrift hat nie ein Volk größer gedacht und sie höher gestellt als die Germanen“, sagte Karl Müllenhoff. Es wäre ihnen fast zum Verhängnis geworden, als die Macht der Schrift, der Schreibekunst und alles Geschriebenen der Geschichte allein in den Händen des römischen Klerus lag, der alles Heidnische durch Fremdes ersetzte.

Ebenso wichtig ist die Verkündung der Totenehrung und Heldenfeier durch die Runensteine, und damit die Verkündung des WILLENS zur Geschichte. Auch dies ist nicht „später“ als Zauberei.

Auf etwa 300 nach (!) der christlchen Zeitrechnung setzt Wolfgang Krause das Aufkommen der Sitte, Totengedächtnissteine, Bautasteine zu setzen und sie bald auch zu beschriften. Krause betont, daß der Name des Toten anfangs nicht näher erwähnt worden sei.


Der „Runenmeister“ nannte; „nur seinen eigenen Namen und Stand“.„Allein schon durch die Gesetze glaubte er, seine Macht über den Toten und über etwaige Grabfrevler ausüben zu können“.

Seltsam eigentlich!

Grabanlagen, Steinsetzungen, Hügel, Bautasteine bis zu sechs Meter Höhe, mühsame Runenritzungen, und das alles, obwohl den Stifter des Ganzen offenbar nichts anderes stärker beseelte als Angst vor dem Toten oder Besorgnis wegen der Grabräuber!?


Da man dies durch eine weniger auffällige, aber den Toten vernichtende Beisetzung sich hätte sparen können, aber dennoch so viel für den Toten tat, ist wohl anzunehmen, daß andere Gründe die überlebenden BEHERRSCHTEN.

Dann aber ist anzunehmen, daß der das Mal errichtende Trauernde seinen oder seines „Runenmeisters“ Namen nicht nur als MAGISCHE BESCHWÖRUNG hinsetzte, nicht also diese Inschriften „rein magischen Charakter tragen“. Sollte der eingeritzte Name nur sagen: “Ich habe den Toten gebannt (oder die Grabräuber)“, wie soll man sich dann religionsgeschichtlich alles Weitere erklären?

Krause führt als Beweis seiner Annahme den ältesten Stein dieser Art an: „Ich, Dag, die Runen malte“. Es handelt sich um den Fund von Einaug in Norwegen, Ende des 4. Jahrhunderts. War das nur ein magischer Bann? Liegt es vielleicht näher, anzunehmen, daß die Namen der Toten, die zu dag „gehörten“, bekannt waren. Es liegen mehrere Hügel dort, die zum Teil auch mit Steinen, aber ohne Runen, besetzt sind. Wurden diese also alle magisch durch „Dag, die Runen malte“ geschützt? Oder wußten die Leute dort, welchen Geschlechts Totenstätte das war, wußten die Namen, und lasen im Namen des Sippenvertreters der Toten diese mit?

Gewiss geben andere Inschriften anderen Sinn. Krause führt an: „Ich der Gode, der unbezauberte (ungandir)“ mit der hinzugefügten Eis-und Hagelrune, wo offenbar auch zu ergänzen ist: „malte die Runen“, (um 400). Oder vom Vänersee: „Der Schlimme (?) heiße ich“, „Hrabu heiße ich; ich Eril ritze die Runen“. Diese im Anfang zweifelhafte Inschrift liegt aber bereits 50 Jahre später als etwa die auf dem norwegischen Kjölevigstein: „Hathuleik (ruht hier). Ich Hagestolz hügelte ein meinen Sohn“! Aus gleicher Zeit, um 500, haben wir Grabschriften wie: „Asugast“, mit Hinzufügung „Grabhügel“ und den Namen des offenbar kein Ungeschick beklagenden Ritzers. Oder „Juthing (ruht hier). Ich Wakr habe das Schreiben gelernt.“ (unnam wraita) Und dann: „Nach Hariwulf ritze Hathuwulf, Heriwulfs Sohn, diese Runen.“

Und nun reihen sich die schönsten Totengedächtnissteine in reicher Fülle an: „Den neuen Siedlern, den neuen Fremdlingen gab Hathuwulf ein gutes Jahr, schenkte Hariwulf zu Genüge“. „Hnabds Grabhügel“: „Haruwulfs Steine“. „Gunvalds Stein, des Sohnes Roalds, des Redners auf Salhaugen“. „Thulf errichtete diesen Stein für seinen Bruder Rade, einen sehr guten Mann“ ….

Und noch die Haitabu-Steine: „König Sven setzte den Stein für Starde, seinen Gefährten, der nach Westen gefahren war, jetzt aber den Tod fand vor Haitabu“. Und „Thorolf errichtete diesen Stein, der Gefährte Svens, für Erich, seinen Genossen, der den Tod fand, als die Männer um Haitabu saßen. Er war aber Steuermann und tapferer Held“.

Geschichte Haitabus melden auch die Asfrid-Steine: „Vi Asfrid setzte diesen Stein, die Tochter Odinkars dem König Sigtrygg, ihrem und Gnupas Sohn“, und „Asfrid setzte dies Denkmal Sigtrygg, ihrem Sohn, auf der geweihten Grabstätte des Gnupa“.

Und schließlich die dänischen Königssteine aus jenem großen Jahrhundert der Überwindung Haitabus und der Einsetzung des ersten römisch-christlichen Königs in Dänemark: „König Gorm errichtete dieses Monument zum Gedächtnis seiner Gattin, Thyra, Dänemarks Mehrerin“. Und dann, neben dem ältesten, im Norden belegbaren Christusbild (Jüngerer Jällinge-Stein, abgebildet bei Konst. Reinhardt): „König Harald ließ dieses Monument fertigen zum Gedächtnis seines Vaters Gorm und seiner Mutter Tyra, der Harald, der sich ganz Dänemark gewann und Norwegen, und der die Dänen zu Christen machte“.

Das ist der neue christliche Königston!

Wie hier zum Schluß der Geschichte anklingt, so weisen uns andere solche Steine die Kolonisations- und Fernfahrten bis zu dem Stein aus der Baffinsbai vom Jahre 1333, der vom Tod in der Eiswüste kündet: „Erling Sigvatson und Bjarni Tordarson und Eindridi Oddsson Sonnabend vor dem Prozessionstag errichteten diese Warten und beraunten den Eissturm“, oder zu dem Löwen am Piräus: „Asmund schlug die Runen ein zusammen mit Asgeir, Thorolf und Jvar auf Geheiß Haralds des Hohen, obgleich die Griechen es gewahrten und verboten“.

Was aus diesen Inschriften zu uns redet, dürfen wir uns nicht immer wieder durch die völkerkundlich bestimmten Entwicklungskonstruktionen verleiden lassen. Oft sind die sorgsamen und vorsichtigen Forscher – in Ermangelung auch oft von religionswissenschaftlicher Kenntnis – in Bezug auf diese Rekonstruktionen sehr leichtgläubig.

Wenn die Germanen zu Armins Zeit (!) ihre Helden in Liedern feierten (als einzige Art der Geschichtsüberlieferung, wie Tacitus sagt) und dann diese Steine bereits um 500 im Norden eine so deutliche Sprache reden (ganz abgesehen von den die Namen der Toten stets weiter tragenden Namen der Lebenden, wie Pflege der Grabstätten u. a.), wie kann dann der „magische Zauber“ den Forscher so verzaubern, dass er das uns erfassbare erste (4.) Jahrhundert dieser Sitte der Bautastein-Beschriftung religionsgeschichtlich gewissermaßen aus der germanischen Welt hinauswirft mit dem ohne jeden Zweifel vorgetragenen Satz: „Ihr Zweck war, den Toten an sein Grab zu bannen und Grabfrevler zu warnen oder fernzuhalten.“ Seine wenigen bisher erwähnten Beispiele beweisen religionsgeschichtlich NICHT genug, so wenig das alte Vorkommen einer Bedrohung der Grabräuber durch Runenwort bestritten werden kann.

Mit welchem Rechte wird eine Chronologie aufgebaut, nach der am Ende des 4. Jahrhunderts ein Stein, der den Totennamen verschweigt („Dag, malte die Runen“), Zeugnis dafür ist, daß man ursprünglich nur den Toten an sein Grab bannen wollte, während eine oder zwei Generationen SPÄTER (infolge des Zufalls der Funde) keine Spur eines „rein magischen Charakters“ sich zeigt, sondern das uns und den Germanen wohl schon immer selbstverständliche Gegenteil überlegen bezeugt ist (vergl. Tac. Germ. C 27)?

Vielleicht ist solche Laienkritik am Runenfachmann unerlaubt, aber in einer Zeit, wo man sogar so weit geht, die Elitekriegerbünde als Hexenbanner und die Haupthelden der Heldensage als gefeierte „Exorzisten“ aufzufassen, ist es nötig, an diesem kleinen Beispiel des möglichen Irrtums die Gefahr der „magischen Deutung“ aufzuzeigen. Freilich ist die Religionsgeschichte weithin selbst daran schuld, daß Germanisten sich ihrer irrig bedienen.

ENDE Teil 1 | Der Beitrag wird fortgesetzt!

(copyright albrunablog, Bernhard Kummer)